Musikalische Ordnungen im sprachlichen Ausdruck
|
Gibt es ‘musikalisches’ Schreiben? Gibt es Werke der erzählenden Literatur, in denen Musik nicht
nur thematisch explizit behandelt wird, sondern in denen genuin musikalische Prinzipien auf der Ebene der inhaltlichen
Struktur wie des Stils selbst zur Anwendung kommen? Dies ist die Ausgangsfrage des vorliegenden Dissertationsprojekts,
welcher anhand der Analyse von literarischen und literaturkritischen Werken im Frankreich des 20. Jh. nachgegangen
werden soll. |
I. Musikbegriff |
Der Musikbegriff, welcher der Arbeit zugrunde gelegt wird, zeichnet sich durch zwei konstitutive Momente aus: |
1. formales/ strukturelles Moment – Repetitivität |
Musik definiert sich als series of ordered events in time [Peter Kivy], welche ihre Ordnung und innere
Strukturierung aus dem Prinzip der Repetitivität bezieht. ‘Repetitivität’ bezieht sich zum
einen auf Phänomene der Makrostruktur wie Variationsformen, Sonatenhauptsatzform, Kontrapunkt und das einfache
Wiederholungszeichen ( |: :| ). Zum anderen ist Repetitivität das Organisationselement der Mikrostruktur,
insbesondere im Kontext thematischer Arbeit.1 1 Thematische Arbeit bezeichnet die Zerlegung eines Themas in seine Elementarbausteine, welche selbstständig für sich weiterverarbeitet, wiederholt und neu kombiniert werden können. Sie ist das bevorzugte Kompositionsprinzip der Wiener Klassik (Joseph Haydn, W.A. Mozart), wurde weitergeführt und vollendet von Ludwig v. Beethoven und Johannes Brahms. In verdichteter und abgewandelter Form findet sie sich im Werk Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs. |
2. inhaltliches Moment – strukturelle Repräsentation, Intensität |
Die Frage nach dem Inhalt musikalischer Werke erweist sich in zweierlei Hinsicht als problematisch: |
2.a. strukturelle Repräsentation/ metaphorische Exemplifikation |
In seinem Werk Languages of art von 1968 untersucht der amerikanische Philosoph Nelson Goodman die verschiedenen Repräsentationsweisen der einzelnen Kunstformen im Hinblick auf ihre Notationssysteme. Der musikalischen Notation kommt aufgrund ihrer großen Exaktheit – sie erfüllt alle von Goodman angeführten Kriterien der Diskretion und Disjunktivität – dabei eine Modellrolle zu. Allerdings muss Goodman feststellen, dass sich ein großer Teil dessen, was musikalische Werke ausmacht, die Feinheiten und Freiheiten der Interpretation, nicht über die Partitur erfassen lässt. Für dieses Residuum des notationell Uneinholbaren verwendet er den Begriff des Ausdrucks, der metaphorischen Exemplifikation, den er jedoch nicht weiter ausführt. Simone Mahrenholz nimmt in ihrer Dissertation Musik und Erkenntnis von 1998 diesen Begriff auf und entwickelt ihn weiter. Der außermusikalische Inhalt von Musik besteht ihr zufolge in den dynamischen, zeitlichen Strukturen der repräsentierten Gegenstände. Musik kann demzufolge nicht eine bestimmte Emotion mit ihrem intentionalen Bezug repräsentieren oder tonmalerisch Gegenstände abbilden, wohl aber deren Bewegungskonturen. Eine ähnliche These vertritt der amerikanische Philosoph Peter Kivy, der in seinem Werk An introduction to a philosophy of music (2003) von einer strukturellen Repräsentation der Emotionen spricht. Ein Musikstück besitzt somit an sich selbst bestimmte strukturelle Komponenten, die es als ‘heiter’ oder ‘traurig’ kennzeichnen – dies vor allem im Bezug auf die Parameter Tempo, Tonraum, Tonhöhe, Dynamik und Artikulation. |
2.b. Repetitivität – Differenz und Intensität |
Wie verträgt sich nun das inhaltliche Konzept einer Repräsentation dynamischer Strukturen mit der
äußerlichen Bestimmung von Musik als formal streng nach dem Prinzip der Repetitivität verfahrender
Kunstform? |
II. Anwendung und Methode |
Die Untersuchung literarischer Werke im Hinblick auf ihre ‘musikalische’ Verfasstheit nimmt
für diese Arbeit ihren Ausgang im Werk von Marcel Proust. Wie von Jean Milly in seinem Werk La phrase
de Proust überzeugend dargestellt wurde, schlägt sich die langjährige Beschäftigung des
Schriftstellers mit musikalischen Werken in A la recherche du temps perdu auf der Ebene der
Inhaltsorganisation wie des Stils selbst nieder. Zu der thematischen Beschäftigung mit der Kunstform Musik
über die fiktiven musikalischen Werke Vinteuils sowie der theoretischen Auseinandersetzung mit Prinzipien der
musikalischen Kompositionstechnik – ‘reprise en mineur du même motif’, leitmotiv als
‘névralgie’ – tritt in der Recherche die metaphorische Exemplifikation, d.i. die
Umsetzung und Hervorhebung der dynamischen Strukturen des expliziten Aussagegehalts am Material des Textes selbst.
Dies vollzieht sich auf der Ebene der ‘phrase’ durch Phonem–, Semem– und Lexemrekurrenzen
wie auch durch eine Sprengung des syntaktischen Rahmens. Hierdurch entstehen Intensitätszentren semantischer
wie rhythmischer Natur, die den harmonischen Spannungsverhältnissen wie rhythmischen Akzenten eines
Musikstücks analog sind. Auf der Ebene der Strukturierung des Inhalts lässt sich darüber hinaus durch
das Zusammenspiel von Serien und Gruppen [Deleuze] als Repetition, Kombination und im kontrastiven Gebrauch das
musikalische Prinzip der Repetition auch auf der Ebene der Makrostruktur ausmachen. |
Einführende Literatur (Auswahl) |
Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience, éd. du centenaire PUF, Paris 1991. |
Bergson, Henri: L’évolution créatrice ; Quadrige/PUF, Paris 1941. |
Bergson, Henri: La pensée et le mouvant ; Quadrige/PUF, Paris 1938. |
Deleuze, Gilles: Proust et les signes ; Quadrige/PUF, Paris 1964. |
Deleuze, Gilles: Le bergsonisme ; Quadrige/PUF, Paris 1966. |
Deleuze, Gilles: Différence et répétition ; PUF/Épiméthée, Paris 1968. |
Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst; Suhrkamp Verlag, FfaM 1973. |
Goodman, Nelson: Ways of worldmaking; Hackett Publishing Company, Indianapolis 1978. |
Jankélévitch, Vlad.: La musique et l’ineffable ; Armand Colin, Paris 1961. |
Juslin, Patrik N.: A functionalist perspective on emotional communication in music performance; Acta Universitatis Upsaliensis, Uppsala 1998. |
Kivy, Peter: Introduction to a philosophy of music; Clarendon Press, Oxford 2002. |
Kivy, Peter: The fine art of repetition; Cambridge University Press 1993. |
Kivy, Peter: The corded shell; Princeton University Press, Princeton 1980. |
Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis; Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1998. |
Milly, Jean: La phrase de Proust ; Champion, Paris 1983. |
zur Startseite |