Musikalische Ordnungen im sprachlichen Ausdruck
– wie musikalisch kann Prosa sein? –

Gibt es ‘musikalisches’ Schreiben? Gibt es Werke der erzählenden Literatur, in denen Musik nicht nur thematisch explizit behandelt wird, sondern in denen genuin musikalische Prinzipien auf der Ebene der inhaltlichen Struktur wie des Stils selbst zur Anwendung kommen? Dies ist die Ausgangsfrage des vorliegenden Dissertationsprojekts, welcher anhand der Analyse von literarischen und literaturkritischen Werken im Frankreich des 20. Jh. nachgegangen werden soll.
Die Engführung von Musik und Literatur in ihrer Eigenschaft als zeitliche Kunstformen ist ein gängiger Topos der abendländischen Kulturgeschichte, insbesondere der Episteme des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit dem Konzept der Synästhesie stellt sich in dieser Zeit verstärkt die Frage nach dem Zusammenspiel wie auch dem Widerspiel der einzelnen Sinne und der ihnen korrespondierenden Kunstformen. Der Musik wird in diesem Kontext ob ihrer integrativen Qualitäten eine Schlüsselfunktion zugeschrieben.
Welches sind nun aber die konstitutiven Merkmale des genuin Musikalischen? Welches sind die distinktiven Eigenschaften, bei deren Übertragung auf das Gebiet der écriture sich von einer ‘musikalischen’ Schreibweise sprechen ließe?

I. Musikbegriff

Der Musikbegriff, welcher der Arbeit zugrunde gelegt wird, zeichnet sich durch zwei konstitutive Momente aus:

1. formales/ strukturelles Moment – Repetitivität

Musik definiert sich als series of ordered events in time [Peter Kivy], welche ihre Ordnung und innere Strukturierung aus dem Prinzip der Repetitivität bezieht. ‘Repetitivität’ bezieht sich zum einen auf Phänomene der Makrostruktur wie Variationsformen, Sonatenhauptsatzform, Kontrapunkt und das einfache Wiederholungszeichen ( |: :| ). Zum anderen ist Repetitivität das Organisationselement der Mikrostruktur, insbesondere im Kontext thematischer Arbeit.1
Ein solcher auf dem Repetitivitätsprinzip basierender Musikbegriff umfasst sämtliche Werke der abendländischen Instrumentalmusik vom 18.Jh. bis zur Mitte des 20.Jh., welche weder Programm, Text noch einen programmatischen Titel besitzen, d.i. Werke der sogenannten absoluten Musik. So sind etwa die ersten wie die letzten zwei Sätze von Beethovens Streichquartett op.132 Fälle von absoluter Musik, wohingegen der dritte Satz durch seinen programmatischen Titel – Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart – strenggenommen nicht als ‘absolute Musik’ bezeichnet werden kann. Mischformen von Musik und Text wie etwa Oper und Programmmusik enthalten das repetitive Element nur in abgeschwächter Form, da ihr ‘Plot’ eine zielgerichtete Entwicklung verfolgt, ‘wortwörtliche’ Wiederholungen der gleichen Emotionen/Ereignisse keinen Sinn ergeben würden.

1 Thematische Arbeit bezeichnet die Zerlegung eines Themas in seine Elementarbausteine, welche selbstständig für sich weiterverarbeitet, wiederholt und neu kombiniert werden können. Sie ist das bevorzugte Kompositionsprinzip der Wiener Klassik (Joseph Haydn, W.A. Mozart), wurde weitergeführt und vollendet von Ludwig v. Beethoven und Johannes Brahms. In verdichteter und abgewandelter Form findet sie sich im Werk Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs.

2. inhaltliches Moment – strukturelle Repräsentation, Intensität

Die Frage nach dem Inhalt musikalischer Werke erweist sich in zweierlei Hinsicht als problematisch:
Zum einen kann absolute Musik im Gegensatz zu Sprache keine Denotationsbeziehung zu Elementen unterhalten, die außerhalb ihrer selbst liegen. So lassen sich etwa Triller in einem Werk der Programmmusik effektvoll als Vogelgezwitscher einsetzen, doch werden die Hörer von Tartinis Teufelstriller–Sonate oder Paganinis 6. Caprice wohl kaum die Bewusstseinsvorstellung /Vogel/ mit dieser virtuosen Art von Trillern in Verbindung bringen. Zum anderen erweist sich jedoch eine rein formalistische Definition von Musik, welche tönend bewegte Formen [Hanslick], d.i. reine Tonbeziehungen, zum alleinigen Inhalt musikalischer Werke erklärt, als ungenügend und mittlerweile auch empirisch widerlegbar. Was soll nun aber der außermusikalische Inhalt von Musik sein, und wie gelangt er in die Musik hinein?

2.a. strukturelle Repräsentation/ metaphorische Exemplifikation

In seinem Werk Languages of art von 1968 untersucht der amerikanische Philosoph Nelson Goodman die verschiedenen Repräsentationsweisen der einzelnen Kunstformen im Hinblick auf ihre Notationssysteme. Der musikalischen Notation kommt aufgrund ihrer großen Exaktheit – sie erfüllt alle von Goodman angeführten Kriterien der Diskretion und Disjunktivität – dabei eine Modellrolle zu. Allerdings muss Goodman feststellen, dass sich ein großer Teil dessen, was musikalische Werke ausmacht, die Feinheiten und Freiheiten der Interpretation, nicht über die Partitur erfassen lässt. Für dieses Residuum des notationell Uneinholbaren verwendet er den Begriff des Ausdrucks, der metaphorischen Exemplifikation, den er jedoch nicht weiter ausführt. Simone Mahrenholz nimmt in ihrer Dissertation Musik und Erkenntnis von 1998 diesen Begriff auf und entwickelt ihn weiter. Der außermusikalische Inhalt von Musik besteht ihr zufolge in den dynamischen, zeitlichen Strukturen der repräsentierten Gegenstände. Musik kann demzufolge nicht eine bestimmte Emotion mit ihrem intentionalen Bezug repräsentieren oder tonmalerisch Gegenstände abbilden, wohl aber deren Bewegungskonturen. Eine ähnliche These vertritt der amerikanische Philosoph Peter Kivy, der in seinem Werk An introduction to a philosophy of music (2003) von einer strukturellen Repräsentation der Emotionen spricht. Ein Musikstück besitzt somit an sich selbst bestimmte strukturelle Komponenten, die es als ‘heiter’ oder ‘traurig’ kennzeichnen – dies vor allem im Bezug auf die Parameter Tempo, Tonraum, Tonhöhe, Dynamik und Artikulation.

2.b. Repetitivität – Differenz und Intensität

Wie verträgt sich nun das inhaltliche Konzept einer Repräsentation dynamischer Strukturen mit der äußerlichen Bestimmung von Musik als formal streng nach dem Prinzip der Repetitivität verfahrender Kunstform?
Eine Konzeption der Repetition, welche über die rein musiktheoretische und –praktische Auslegung weit hinausgeht, wird von Gilles Deleuze in seinem Werk Différence et répétition (1968) exponiert. Eine erste positive Bestimmung der répétition, welche dem Konzept der généralité als allgemeingültig postulierter Naturgesetze wie auch moralischer Imperative im Sinne Kants entgegengesetzt wird, erfolgt hier anhand des Oppositionspaares von répétition–mesure und répétition–rythme. Während das Metrum stets gleichbleibend ist, eine retour isochrone d’éléments identiques von quantitativer Natur darstellt, erweist sich der Rhythmus als eine völlig andere Art der Repetition: Durch ihn werden Spannungsverhältnisse hergestellt, in denen des instants privilégiés, d.i. Akzente bzw. Intensitätszentren, mit den unbetonten Taktzeiten der Entspannung alternieren. Diese Form der Repetition kann daher als qualitative bezeichnet werden. Die répétition–rythme stellt dabei die innere, positive und konstitutive Differenz – den Kontrast bzw das Zusammenspiel von Spannung und Entspannung – eines Musikstücks dar, welche in die äußerliche répétition–mesure eingebettet ist. Dieser zweifache Repetitionsbegriff leitet sich aus dem Begriffszusammenhang von Quantität, Qualität und Intensität im Werk Henri Bergsons her, wie er insbesondere in dem Essai sur les données immédiates de la conscience von 1889 dargestellt wird. Mit den Konzepten der durée intérieure/vraie und der durée extérieure findet sich dort eine Zeitebene der qualitativen Differenzen, der Intensitäten, einer Zeitebene der quantifizierbaren, gleichförmig ablaufenden Zeiteinheiten gegenüberstellt.
Wie lässt sich nun das Prinzip der Repetitivität wie auch der strukturellen Repräsentation bzw. der metaphorischen Exemplifikation auf literarische Werke anwenden?

II. Anwendung und Methode

Die Untersuchung literarischer Werke im Hinblick auf ihre ‘musikalische’ Verfasstheit nimmt für diese Arbeit ihren Ausgang im Werk von Marcel Proust. Wie von Jean Milly in seinem Werk La phrase de Proust überzeugend dargestellt wurde, schlägt sich die langjährige Beschäftigung des Schriftstellers mit musikalischen Werken in A la recherche du temps perdu auf der Ebene der Inhaltsorganisation wie des Stils selbst nieder. Zu der thematischen Beschäftigung mit der Kunstform Musik über die fiktiven musikalischen Werke Vinteuils sowie der theoretischen Auseinandersetzung mit Prinzipien der musikalischen Kompositionstechnik – ‘reprise en mineur du même motif’, leitmotiv als ‘névralgie’ – tritt in der Recherche die metaphorische Exemplifikation, d.i. die Umsetzung und Hervorhebung der dynamischen Strukturen des expliziten Aussagegehalts am Material des Textes selbst. Dies vollzieht sich auf der Ebene der ‘phrase’ durch Phonem–, Semem– und Lexemrekurrenzen wie auch durch eine Sprengung des syntaktischen Rahmens. Hierdurch entstehen Intensitätszentren semantischer wie rhythmischer Natur, die den harmonischen Spannungsverhältnissen wie rhythmischen Akzenten eines Musikstücks analog sind. Auf der Ebene der Strukturierung des Inhalts lässt sich darüber hinaus durch das Zusammenspiel von Serien und Gruppen [Deleuze] als Repetition, Kombination und im kontrastiven Gebrauch das musikalische Prinzip der Repetition auch auf der Ebene der Makrostruktur ausmachen.
Während für das Werk Marcel Prousts die eigene Beschäftigung mit musikalischen Werken sowie die explizite, thematische Auseinandersetzung mit musikalischen Kompositions– und Repräsentationsweisen der Umsetzung dieser Prinzipien voraus– bzw. mit ihnen einhergeht lässt sich für das literarische wie literaturkritische Werk Maurice Blanchots eine implizite Anlehnung an diese Prinzipien feststellen. Durch das Werk Marcel Prousts wie Friedrich Nietzsches ist Blanchot mit Formen ‘musikalischen’ Schreibens vertraut.
Eine These dieser Arbeit ist, dass sich im Werk Blanchots auf der Ebene des Stils wie der Strukturierung des Inhalts Prinzipien musikalischen Schreibens feststellen lassen, ohne dass diese auf thematischer expliziter Ebene als solche gekennzeichnet werden. Darüber hinaus wird zu untersuchen sein, ob und inwiefern Blanchots Bestimmungen von Literatur, wie sie in Le livre à venir und L’espace littéraire enthalten sind, Übereinstimmungen mit musikalischen Ordnungs– und Funktionsweisen aufweisen.
Dies mündet in die Frage, ob sich im Ausgang von solch einer ‘musikalischen’ Bestimmung literarischer Werke in der französischen Literatur des 20.Jh. eine Tendenz des expliziten wie impliziten Rekurses auf die im ersten Abschnitt genannten genuin musikalischen Funktionsweisen der Repetitivität und der metaphorischen Exemplifikation/strukturellen Repräsentation feststellen und welcher heuristische Zugewinn sich aus einem solchen musikalischen Umgang mit dem sprachlichen Material ziehen lässt. Welche Qualitäten hat Musik der Sprache voraus, dass ihre Merkmale in literarische Werke übernommen werden? Was sind die Zugewinne, was die Grenzen einer solchen Übernahme?

Einführende Literatur (Auswahl)
Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience, éd. du centenaire PUF, Paris 1991.
Bergson, Henri: L’évolution créatrice ; Quadrige/PUF, Paris 1941.
Bergson, Henri: La pensée et le mouvant ; Quadrige/PUF, Paris 1938.
Deleuze, Gilles: Proust et les signes ; Quadrige/PUF, Paris 1964.
Deleuze, Gilles: Le bergsonisme ; Quadrige/PUF, Paris 1966.
Deleuze, Gilles: Différence et répétition ; PUF/Épiméthée, Paris 1968.
Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst; Suhrkamp Verlag, FfaM 1973.
Goodman, Nelson: Ways of worldmaking; Hackett Publishing Company, Indianapolis 1978.
Jankélévitch, Vlad.: La musique et l’ineffable ; Armand Colin, Paris 1961.
Juslin, Patrik N.: A functionalist perspective on emotional communication in music performance; Acta Universitatis Upsaliensis, Uppsala 1998.
Kivy, Peter: Introduction to a philosophy of music; Clarendon Press, Oxford 2002.
Kivy, Peter: The fine art of repetition; Cambridge University Press 1993.
Kivy, Peter: The corded shell; Princeton University Press, Princeton 1980.
Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis; Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1998.
Milly, Jean: La phrase de Proust ; Champion, Paris 1983.
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