II. Theoretischer
Ansatz
II.1. Symbolizität
der Verfassung
Die Arbeit
geht von der systematischen Überlegung aus, dass Verfassungen als Institutionen
über eine instrumentelle und eine symbolische Dimension verfügen. In ihrer
instrumentellen Dimension erfüllt die Verfassung eine Steuerungsfunktion,
indem sie als Spielregelwerk des politischen Systems die Institutionen
und Verfahren konstituiert, die den politischen Prozess organisieren und
regulieren. In der symbolischen Dimension übernimmt eine Verfassung eine
Integrationsfunktion, wenn sie die grundlegenden Formen und Prinzipien
gesellschaftlicher Ordnung, die politisch-kulturellen Leitideen eines
Gemeinwesens, die in der Konstituierungsphase verhandelt werden, symbolisch
repräsentiert (Gebhardt 1995; Vorländer 2002). Beide Dimensionen sind
konstitutiv aufeinander bezogen: Nur eine Verfassung, die die politischen
Ordnungsvorstellungen eines Gemeinwesens zu symbolisieren vermag, kann
dauerhaft in der instrumentellen Dimension strukturierend und handlungsleitend
wirken. Verfassungen sind mithin symbolische Ordnungen, bringen die von
ihnen symbolisierten politischen Ordnungsvorstellungen insofern nicht
von selbst zur Sprache. Sie stellen Ordnungsansprüche auf, können sie
aber von sich aus nicht einlösen. Sie sind auf symbolische Darstellungsformen
angewiesen, die ihnen Geltung verschaffen. Erst wenn die Verfassung -
zum Beispiel durch Interpretation - vergegenwärtigt werden kann, kann
sie die von ihr erwartete strukturierende, handlungsleitende und gemeinschaftsstiftende
Wirkung erzielen (Vorländer 2002). Somit können sich Gesellschaften qua
Interpretation im Medium der Verfassung gewissermaßen "selbst beschreiben"
(Häberle 1975): Ein spezifischer Normenbestand stiftet in diesem Fall
- als Produkt politisch-kultureller Selbstverständigung - seinerseits
den "kommunikativen und deliberativen Raum einer politischen Gemeinschaft"
(Vorländer 1999, 81) gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse.
Innerhalb solcher gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse wird
eine Verfassung diskutiert und interpretiert, dieserart an gewandelte
Zeitverhältnisse angepasst und in Geltung gehalten. Die Symbolizität einer
Verfassung bemisst sich insofern daran, inwieweit sie Kristallisationskern
der politisch-kulturellen Selbstverständigung einer Gemeinschaft ist.
Zu den Beteiligten an solchen Verfassungsdiskursen zählen neben der Institution
der Verfassungsgerichtsbarkeit unter anderem Akteure der Öffentlichkeit
wie fachwissenschaftlicher Teilöffentlichkeiten. Dennoch kommt der autoritativen
Rechtssprechung der Verfassungsgerichtsbarkeit ein besondere Rolle zu:
Ihre Prinzipien und Methoden dienen als - an die normierende Kraft der
pluralistischen Öffentlichkeit rückgebundener - Filter gesellschaftlicher
Selbstverständigungsdiskurse (Häberle 1975). Für die Symbolizität einer
Verfassung in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft ist - so die
Annahme - zum einen die inhaltliche Anschlussfähigkeit einer Verfassung
für unterschiedliche Interpretationen, mithin Leitideen eine entscheidende
Voraussetzung. Zum anderen ist die Symbolizität einer Verfassung aber
auch rückgebunden an die Reichweite des Verfassungsdiskurses innerhalb
des gesellschaftspolitischen Umfeldes.
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III. Entwicklung
der Fragestellung : Konstitutionalismus in Kanada
III.2. Grundlage
der Fragestellung
Die kanadische Verfassung stammt von 1982. Als einheitsstiftendes Reformprojekt
war sie Ende der 1960er Jahre von Premierminister Trudeau angestoßen worden.
Hinsichtlich der spezifisch kanadischen Ausprägung von Multikulturalität
sind drei verfassungsmäßig relevante Faktoren zu unterscheiden. Den ersten
Faktor begründet die sprachlich und territorial verfestigte Kluft der
französischen und britischen Gründungsnationen. Quebec als nationale Minderheit
will die verfassungsmäßige Anerkennung seines frankophonen kulturellen
Erbes in einem bikulturellen Kanada. Den zweiten Faktor begründet die
Koexistenz der immigrierten Bevölkerung. Sie fordert zum einen Anerkennung
(im Sinne von kultureller Förderung), zum anderem Nichtberücksichtigung
(im Sinne von Antidiskriminierungsbestimmungen) der durch Merkmale kultureller
Zugehörigkeit gestifteten Differenz. Zugleich ist ihr Anerkennungsdiskurs
ein "relativer". In der Konstituierungsphase der Verfassung wurde er gegen
die Forderungen Quebecs nach einem bikulturellen Kanada geführt. Den dritten
Faktor stellen die autochthonen Nationen als historischen Sonderfall dar,
der mit einem besonderen rechtlichen Autonomiestatus verbunden ist. Um
den nationalen und ethnischen Pluralismus in einer politischen Einheit
zu integrieren, wollte Trudeau eine individualliberale institutionelle
Ordnung schaffen. Gerechtigkeit war für ihn rückgebunden an die Garantie
von Freiheits- und Gleichheitsrechten unbesehen der ethnischen Herkunft
und die Gewährleistung der Neutralität des Staates in kulturellen Belangen.
Gleichwohl zeigt sich die Beteiligung unterschiedlicher Interessengruppen
in der Konstituierungsphase der Verfassung in Gestalt der verfassungsrechtlichen
Anerkennung gruppenspezifischer Identitäten. Vor diesem Hintergrund ergeben
sich sehr unterschiedliche Dispositionen der kanadischen Grundrechtscharta.
Denn der Grundrechtsteil der Verfassung spiegelt die Belange der an der
Verfassungsreform beteiligten unterschiedlichen Gruppen. Der liberale
Konstitutionalismus Trudeaus zeigt sich in der Garantie von Grundfreiheiten
in Artikel 2 wie dem Gleichheitsgrundsatz in Artikel 15 (1). Die Anerkennung
gruppenspezifischer Identitäten und somit Optionen eines multikulturellen
Konstitutionalismus werden ersichtlich in den Bestimmungen in Artikel
15 (2), den Sprachrechten der Artikel 16 (-23), an den Rechten der Urbevölkerung
(Artikel 25) wie in der Multikulturalismusbestimmung des Artikel 27 (siehe
Tabelle). Insofern stellt die Grundrechtscharta eine Spannungsbalance
(Rehberg 2001) dar. Zum Beispiel steht eine gezielte Anerkennung ethnischer
Subkulturen in einem Spannungsverhältnis zum Absolutheitsanspruch individueller
Freiheitsrechte und Gleichheitsgrundsätze. Derlei Spannungsverhältnisse
gewinnen noch an Relevanz, insofern Artikel 1 der Charta Grundrechtseinschränkungen
zulässt, wenn sie den Prinzipien einer "freien und demokratischen Gesellschaft"
entsprechen.
Artikel
1 : Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen gemäß den Prinzipien
einer"free and democratic society" |
Abstrakt-individualistische
Bestimmungen |
Anerkennung gruppenspezifischer
Identitäten |
Artikel 2 : Gewissens-
und Religionsfreiheit, Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, Presse- und
Kommunikationsfreiheit, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit |
Artikel 15 (2)
: "affirmative action" Rechtmäßigkeit staatlicher Gleichstellungs-
und Förderungsprogramme zugunsten bestimmter benachteiligter Gruppen
der in 15 (1) genannten Kriterien ungeachtet des Diskriminierungsverbotes |
Artikel 15 (1)
: individuelle Gleichbehandlung vor und unter dem Gesetz. Die Gleichbehandlung
aller muss ohne Diskriminierung erfolgen, insbesondere ohne Diskriminierung
nach Rasse, nationaler und ethnischer Herkunft, Hautfarbe, Religion,
Geschlecht, Alter, körperlicher oder geistiger Behinderung |
Artikel 16 :
Bilingualismus/Sprachenrechte, garantieren den offiziellen Status
der englischen und französischen Amtssprachen, Art. 23 billigt französischen
und englischen Sprachminoritäten das Recht auf Ausbildung in der Muttersprache
zu(16-23 : Sprachenrechte) |
|
Artikel 25 :
Rechte und Freiheiten der autochthonen Bevölkerung werden von der
Charta nicht berührt
Artikel 27 :
Multikulturelles Erbe Kanadas, schreibt den Gerichten vor, die Grundrechtscharta
in einer Weise zu interpretieren, welche die Erhaltung und die Förderung
des multikulturellen Erbes Kanadas berücksichtigt
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Der durch die Dispositionen
der Grundrechtscharta gegebene kommunikative und deliberative Raum gesellschaftlicher
Selbstverständigung ist mithin weit gefasst: Die Normenvielfalt lädt einerseits
zu politikphilosophischen wie demokratietheoretischen Überlegungen ein.
Zum anderen bleibt die politische, philosophische und juristische Bedeutung
des Multikulturalismusbegriffs durch die semantische Trennung von "Multikulturalität"
und "linguistischer Pluralität" einerseits, durch die Fassung des eigentlichen
Multikulturalismusgedankens als Interpretationsrichtlinie andererseits
offen. Aus den Dispositionen der Grundrechtscharta lässt sich ableiten,
dass es für das Verfassungsrecht im Hinblick auf die gesellschaftliche
Selbstbeschreibung des multikulturellen Gemeinwesens verschiedene Lesarten
gibt: Durch Verfassungsinterpretation kann ein von abstrakt-individualistischen
Kategorien geprägter liberaler Konstitutionalismus aktualisiert, aber
im Hinblick auf die Anerkennung gruppenspezifischer Identitäten auch modifiziert
werden.
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