Dissertationssprojekt Heike Delitz

Architektur als Medium des Sozialen

Architektur ist omnipräsent, »steht an der Straße, spricht dort zu den Leuten wie ehemals die Philosophen, und ist dabei selbst vom niedern Standpunkt aus gesehen notwendig.« (J. Frank). Architektur ist zugleich – nach einer langen Vorgeschichte – spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts die zwischen Kunst und Funktion einerseits, Kunst und Technik bzw. Wissenschaft andererseits spezifisch oszillierende Kulturpraxis. Zunehmend handelt es sich um eine autonome Disziplin, die sich selbst das Gesetz zu geben beansprucht. Wurden für das Entwerfen bis ins 17. Jahrhundert Gesetze aus Tradition oder Natur geltend gemacht, sind Baukörperformung und komposition im Selbstverständnis der Architektur zunehmend freigestellt, mit den entsprechenden Gegenreaktionen. Im 19. Jahrhundert wird auch das Material kontingent, entstehen neue Baustoffe mit neuen Möglichkeiten für neue Baufunktionen. Mit dem gesteigert demiurgischen Gestus nach den Erfahrungen der Macht der Technik im Ersten Weltkrieg wird die Architektur zur Praxis der Kontingenznutzung schlechthin: das Feld, in dem eine Berufsgruppe Anspruch erhebt auf die Ordnung einer enttraditionalisierten, urbanisierten und von Klassenspaltung bedroht scheinenden Gesellschaft. In dieser Moderne bleibt Architektur nicht länger beschränkt auf ein Spektrum der gesellschaftlichen Kräfte und Funktionen, sondern wird bestrebt sein, alles zu erfassen, um nichts weniger als das ‚Leben‘ zu steigern. Es geht um das soziologisch keineswegs uninteressante Potential von Architektur, Gesellschaft zu gestalten. Und obgleich die Architektur der klassischen Moderne zu keiner Zeit im Stadtbild dominierte und ihr Radikalanspruch zweifellos nicht mehr der gegenwärtige ist - ist die kreativistische Haltung der Architekturmoderne doch das historische Apriori gegenwärtiger Architektur.

Das Projekt zielt entsprechend dieser Bedeutung der Architektur auf eine Architektursoziologie, die das Gebaute nicht nur als das »kultursoziologische Senkblei« der Gesellschaftsanalyse nutzt, sondern Architektur als ein »Medium des Sozialen« begreift. Auf der Basis einer Soziologie architektonischer Artefakte und einer Soziologie des kreativen Handelns wird die These verfolgt, dass Architektur nicht nur je ein (wie immer zu fassender) ›Ausdruck‹ einer Gesellschaft ist, vielmehr diese durch die Imagination im körperräumlichen, Wahrnehmung und Bewegung vorstrukturierenden, nonverbalen ›Medium des Sozialen‹ hindurch herstellt und verändert. Architektur ist nicht einfach eine nachträgliche Symbolisierung des Sozialen, sondern wirkt auf es zurück. Infolge der gesteigert kreativistischen Haltung einer avantgardistischen Berufsgruppe, die über die konträren Lösungsvorschläge des »neuen Stils« hinweg reicht, sieht sich die Gesellschaft seither mit anderen Augen, als sie es noch im 19. Jahrhundert tun konnte. In ihrer architektonischen Gestalt imaginiert sich die Gesellschaft neu; verändert sich die Sichtbarkeit der Subjekte und deren Verteilung im sozialen Raum; erhält das Naturverhältnis eine andere Gestalt. In den architektonisch kultivierten Oberflächen ästhetisiert und generiert die Architektur einen spezifischen Charakter der Vergesellschaftung. Das Gebaute entspricht je einem anderen sozialhistorischen Dispositiv; suggeriert in Form, Dimension, Komposition, Materialwahl je eine andere Rationalität; verkörpert und strukturiert je eine Lebensform in Korrelation zu entsprechenden Subjektivitäts- und Wirklichkeitskonzeptionen; impliziert je andere Anthropologien. Neue Architekturen sind »neue Falten im sozialen Stoff« (G. Deleuze).

Nötig sind in der Voraussetzung sozialer Effekte avantgardistischer Architekturen – den neuen »Falten im sozialen Stoff« - zwei Umstellungen in der soziologischen Theorie: mithin eine neue begriffliche Fassung der Relation von Architektur und Gesellschaft. Diese Relation wird zumeist in den Begriffen von »Ausdruck«, »Symbol« und »Spiegel« konzipiert. Denklogisch ist damit eine Position eingenommen, die architektonische Verkörperungen nur als nachrangige zu denken vermag, als »Verdopplung« des Sozialen. Entwickelt werden soll demgegenüber eine differenztheoretische Soziologie architektonischer Artefakte (als »Medium« des Sozialen); eine Theorie des »schöpferischen« Handelns ebenso wie eine Soziologie des Utopischen; eine Theorie, die die architektonische Imagination von Gesellschaft einrechnet. In Bezug auf die Soziologie architektonischer Artefakte – die Frage, wie Architektur sich je mit den »menschlichen« Akteuren verbindet – wird einerseits auf die Medienphilosophie Helmuth Plessners zurückgegriffen. Plessner bietet eine philosophisch-anthropologische Medientheorie, die materielle wie sinnhafte Dimensionen von Medialität jenseits von Sprachkonstruktivismus und Medienmaterialismus zusammenführt. Architektur wird sichtbar in ihrer Eigenlogik: als nichtsprachliches und stets diskursiviertes Medium der Welt- und Selbstverhältnisse; als eines, das nicht in der Logik des Bildes aufgeht, sondern in körperleiblicher Bewegung erfahren wird und bei all dem zumeist das »optisch und taktisch unbewußte« (W. Benjamin) bleibt. In Ergänzung zu Plessners »differentieller« Philosophischer Anthropologie sind mit der lebensphilosophischen Variante der Differenztheorie bei Bruno Latour und Gilles Deleuze die »Gefüge« von sozialen, architektonischen, politischen, künstlerischen, ökonomischen, organischen Dimensionen zu betrachten sowie ihre »imaginäre« Funktion zur Herstellung von »Gesellschaft« (Castoriadis). Vorausgesetzt ist angesichts der kontingenzbewussten Haltung des architektonischen Entwerfens weiterhin eine Handlungstheorie, die die »Kreativität des Handelns« (H. Joas) ernst nimmt und dafür nun allerdings die Lebensphilosophie Henri Bergsons systematisch nutzbar zu machen sucht (von der die Differenztheorie eines Gilles Deleuze wie auch die Philosophische Anthropologie eines Helmuth Plessner entscheidend inspiriert sind): diese lebensphilosophische Theorie der Kreativität macht die »schöpferische« Leistung menschlichen Handelns, das »Neue« auf reflektierteste Weise sichtbar, wie sie auch eine Theorie der Imagination bietet.

Auf Grundlage der so skizzierten Theorie wird eine Architektursoziologie der modernen Gesellschaft durchgeführt: historische Fallstudien mit dem Ziel einer ›Geschichte der Gegenwart‹, die das historische Apriori der gegenwärtigen Architektur erkundet. Die Studien widmen sich den Lösungen der gemeinsamen Frage des 20. Jahrhunderts, welcher architektonische Stil der neuen Zeit angemessen sei, um an ihnen die jeweilige Vergesellschaftung im Medium der Architektur zu analysieren, die »neuen Falten im sozialen Stoff«. Die Analyse konzentriert sich auf ›Leitbauten‹: Architekturen, die durch Exkursionen, Zeichnungen, Fotos und Texte aufgenommen und in Formensprache und Funktion fortgeführt werden. Methodisch wird eine Kombination von Phänomenologie und Dispositivanalyse vorgeschlagen, um Materialität und Immaterialität, Reales und Imaginäres, Gestalt und diskursive Aufladung der Architektur in ihrer Verschränkung zu erfassen, die Korrespondenz von Architektur und Selbst- und Weltkonzeptionen.

Ausgehend von einem historischen Fall an der Jahrhundertschwelle – dem Festspielhaus in Dresden-Hellerau – als einem zwischen sachlicher Formensprache und heroischem Monumentalismus oszillierenden Leitbau europäischer Architektur nach ihrer Kontingenzerfahrung (den Diskursen des 19. Jahrhunderts, »in welchem Style man bauen solle«) werden zwei Entfaltungen verfolgt. Die eine führt in den neusachlich-konstruktivistischen und internationalen Gestus der europäischen Architektur der 1920er Jahre, die andere in den heroisch-archaisierenden und nationalen Gestus der europäischen Architektur bis 1945 (vor allem, aber nicht nur in Deutschland). Für beide Entwicklungen, die sich in Hinsicht auf Oberfläche, Gestalt, Dimensionen, Materialwahl, Konstruktion der Architektur signifikant unterscheiden, könnte das »Festspielhaus« der inspirierende Leitbau sein. Als »Schule für Rhythmische Gymnastik« entworfen und gebaut, für ein spezifisches, auf verschmelzende »Resonanz« der (als entfremdet, »arhythmisiert« wahrgenommenen) Individuen zielendes Körperkonzept, ist es architektonisches Medium einer antimodernen Vergemeinschaftung. Gesucht wird – mittels einer Diskursanalyse zeitgenössischer Zeitschriften, Zeitungen und Monographien – in den sich entfaltenden architektonischen Lösungen vor dem Hintergrund dieses Auftakts nach den differenten Deutungen der Moderne, den Ordnungsvorstellungen, den Körperprojekten und Menschen-Formierungen, Bedürfnisanalysen und Lebensvorstellungen, den in den Architekturen implizierten Anthropologien. Aus wissenssoziologischen Gründen sind die »neuen Falten« im sozialen Stoff besonders prägnant in Deutschland, der »verspäteten Nation« (H. Plessner): der Kulturnation von Innerlichkeit, Romantik und Konservativer Revolution, des Neuen Bauens und der Massenbewegungen. Grenzfälle moderner Architektur – die insgesamt nicht mehr die traditionalen Vorgaben unbefragt übernimmt – sind die monumentale, »heroische« Architektur einerseits, die serielle Architektur von »Neuem Bauen« (wie auch »Esprit Nouveau«) andererseits. Dazwischen liegt die Vielfalt der Architekturmoderne, im geteilten Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Ordnung und einer entsprechend demiurgischen Haltung.

Im Raum steht die schöpferisch-konstruktive Potenz dieser Kulturpraxis in einer artifiziellen Gesellschaft wie deren faktische Umwälzung in Anblick und Erfahrbarkeit. Architekten sind in ihrer zur Massenwirksamkeit avancierten Disziplin nicht zuletzt die Vorreiter der neuen, »experimentellen« Lebenshaltung - im Entwurf von Räumen für das Leben: von Artefakten, die sich mit dem Leben verbinden. Weit entfernt, vom »Scheitern« der Architekturmoderne angesichts ihrer Ansprüche immer schon auszugehen, geht es vielmehr um den Versuch, die Effekte, die Positivität der Architektur zu sehen.

Literatur (Auswahl)
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Bd. V, Frankfurt/M. 1991.
Henri Bergson: Zeit und Freiheit (frz. zuerst 1888), Hamburg 1994.
Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1912.
Henri Bergson: Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Meisenheim 1948.
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1923-29), Neudruck Darmstadt 1994.
Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/M. 1984.
Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 1989.
Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M. 1993.
Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 2000.
Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992.
Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1969.
August Endell: Vom Sehen. Über Architektur, Formkunst und »Die Schönheit der großen Stadt« (1908), Basel u.a. 1995.
Wolfgang Eßbach: Antitechnische und antiästhetische Überlegungen in der soziologischen Theorie, in: A. Lösch u.a. (Hg.): Technologien als Diskurse, Heidelberg 2001, 123-136.
Joachim Fischer: Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie, in: Soziale Ungleichheit - Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/M. 2005, 3417-3429.
Joachim Fischer/Michael Makropoulos: Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München 2004.
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/.M. 1976.
Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.
Josef Frank: Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens, Wien 1930.
Siegfried Giedion: Zeit, Raum, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition (engl. zuerst 1941), Basel 1995.
Walter Gropius: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur, Frankfurt/M./Hamburg 1956.
Hans Joas: Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992.
Bruno Latour: Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie, in: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt/M. 1998, 29-82.
Le Corbusier: Städtebau. Übersetzt und herausgegeben von H. Hildebrandt. Berlin/Leipzig 1929.
Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997.
Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: Gesammelte Schriften, hg. v. Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Bd. III. Frankfurt/M. 1981, S. 7-316.
Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975.
Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), GS V, Frankfurt/M. 1981.
Helmuth Plessner: Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter (1932), in: Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge. Hg. von Salvatore Giamusso und Hans-Ulrich Lessing. München 2001, 71-86.
Helmuth Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Zürich 1935.
Heinrich Popitz: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995.
Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert: Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York 1999.
Frank-Berthold Raith: Der heroische Stil. Studie zur Architektur am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1997.
Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien 1997.
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