Die architektonische Symbolisierung politischer, sozialer und kultureller Institutionen in Berlin und Paris (1871-1918)

 

Studien zur politischen Ikonologie öffentlicher Architekturen im Deutschen Kaiserreich und der Dritten Republik

 

 

Thematischer Zuschnitt und Einordnung der Dissertation

 

Die komparativ angelegte Studie versucht zu ermitteln, welche Rolle öffentliche Bauten (les édifices publics) in der Hauptstadt des Frankreich der Dritten Republik (Paris) und in der des Deutschen Kaiserreiches (Berlin) in der Zeit zwischen ihrer Gründung (1870/71) und dem Ende des Ersten Weltkrieges gespielt haben. Da die symbolischen Räume der Kapitalen als gebaute Abbreviaturen für die nationalen Gemeinschaften galten, kann man aus ihrer Analyse Schlussfolgerungen hinsichtlich der jeweils verbindlichen kollektiven Identitätsentwürfe ziehen. Die Perspektive auf die Großinstitutionen der Nation oder auch nur der nationalen Hauptstadt als großes Ganzes muss allerdings nach innen hin ausdifferenziert werden und auf interne Deutungskämpfe bei der Konstruktion dieser Identitätsentwürfe hin untersucht werden. Im 19. Jahrhundert führten gesellschaftliche Modernisierung und Komplexitätssteigerung, staatliche Vereinheitlichung sowie Machtzentralisierung und -abstraktion generell zu einem immensen Aufschwung des Institutionellen. Das heißt vor allem, dass kollektive Identitätskonstruktionen über institutionelle Mechanismen vermittelt und verhandelt wurden und werden. Da wir letztere unter Rückgriff auf Forschungskonzepte Karl-Siegbert Rehbergs immer auch als Symbolisierungsleistungen von Ordnungsideen begreifen können, liegt der Bezug nicht nur zum Visuellen, sondern vor allem zum räumlich organisierten Medium der Architektur auf der Hand. Denn in diesem nahmen räumliche und zeitliche Ordnungskonzepte sichtbare Gestalt an, die in den allermeisten Fällen zu den Leitideen der in diesen öffentlichen Architekturen ansässigen Institutionen in engstem Bezug standen. Als erster Schlüssel und als praktikable Gliederungshilfe für unsere komparative Studie kann daher der Parameter der Funktion dienen, der hier als institutionelle Nutzung der Bauwerke verstanden wird.

Derartige Fragestellungen wie die in unserer Studie aufgeworfenen betreffen sowohl Gegenstandsbereiche der politischen Geschichte, die sich schon seit einiger Zeit mit der Konstruktion kollektiver Identitäten beschäftigt und dabei nicht nur der Rolle ihrer eigenen Disziplin, sondern auch von Symbolisierungen verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet hat, als auch angestammte Perspektiven der Architektur- und somit der Kunstgeschichte. An derartige Schnittmengen nähert man sich gewöhnlich von Seiten der sogenannten politischen Ikonologie an, eines interdisziplinären Forschungsansatzes, der ca. seit Ende der 1970er Jahre vor allem von Historikern, Kunsthistorikern und Politologen etabliert wurde und im Zuge des iconic turn insbesondere ab den 1990er Jahren eine Hochkonjunktur erfahren hat. Dieser Forschungszweig hat bisher nur wenige explizit vergleichende Beiträge geliefert, insbesondere zu dem von uns gewählten Aufmerksamkeitsschwerpunkt. Ähnliches gilt sowieso für die in dieser Hinsicht recht unscharfe Architekturgeschichte klassischen Profils, die zumeist entweder im nationalen Rahmen verbleibt oder gleich europäische Reichweite anstrebt und sich dann zudem häufig als rein stilistische Einflussgeschichte, nicht aber als Vergleichstudie, versteht.

Ein Werk, das wir für unser Vorgehen als vorbildlich hinsichtlich seines komparativen Zuschnitts betrachten, ist eher eines der politischen Geschichte, auch wenn hier implizit ein immenses Interesse an symbolischen Faktoren wie Urbanismus und Architektur vorliegt: Pierre-Paul Sagaves sowohl parallele als auch dezidiert vergleichende, stets zwischen den beiden Polen Paris und Berlin oszillierende Geschichte der beiden Städte (1871 : Berlin-Paris. Capitale du Reich et capitale du monde, Paris 1971), die ausgehend von einer Art Momentaufnahme aus dem Jahre 1871 verschiedenste Facetten und Aspekte des Gegenstandes kaleidoskopartig aneinander reiht, sie überblendet und dabei dennoch auch Verlaufsperspektiven in den Blick nehmen kann. Unsere Studie ist Sagaves Werk auch in der Struktur ihres Aufbaus ähnlich. Was vor allem dem französischen, sich an der École Pratique des Hautes Études heimisch fühlenden Leser als ungewohnt kurvenreicher, ja netzartiger Darstellungsgang erschienen mag, ist als möglichst facettenreiches Mosaik konzipiert. Identitätskonstruktionsprozesse sind komplexer Natur und nicht mono-, sondern nur multikausal erklärbar, was vor allem dann gilt, wenn man ihre symbolischen Aspekte zu berücksichtigen versucht.

Da ein zweiseitiger Vergleich seine ideale Entsprechung in einer ebenfalls binational zusammengesetzten Leserschaft findet, ist die Arbeit auch für diesen angelegt worden. Die zweiteilige Grundstruktur der Arbeit, die im Rahmen eines deutsch-französischen Dissertationsprogramms entstanden ist, reflektiert den Einfluss zweier verschiedener Wissenschaftskulturen, institutioneller Kontexte und Disziplinen, ohne dadurch den Eindruck ihrer Unvereinbarkeit befördern zu wollen. Die vorangestellten, ausführlichen Überlegungen zum konzeptuellen Instrumentarium, seinem eigenen geschichtlichen Gewordensein und vor allem seiner Einbettung in nationale Kontexte sind selbst wiederum vor allem den Gepflogenheiten innerhalb der neueren Entwicklung der Geisteswissenschaften in Deutschland geschuldet und mögen dem französischen Leser als überflüssige Verkomplizierung des „eigentlichen“ Gehaltes erschienen, der den historischen Objekten doch durch einen möglichst „unverstellten“ Blick abgerungen werden muss. Aber auch diese „Verzierungen“ mögen nicht nur als Linsentrübung für ein vermeintlich reines Auge abgetan werden, sondern als eine Art Rechenschaftsbericht über die in der Folge zum Zuge kommenden Begrifflichkeiten. Die darauf folgenden intensiven Vergleiche „konkreter“ Objekte sind auch trotz weitgehenden Verzichts auf eine Schreibweise, die sich voll und ganz auf Archivalien stützt, schon näher an den Gewohnheiten französischer Historiker. Dies gilt vor allem für den trotz aller Problematisierung enzyklopädischen Charakter dieser Kapitel, der nicht nur dem Ideal einer exemplarischen Repräsentativität, sondern auch einer gewissen Vollständigkeit verpflichtet ist. In vielen Fällen mussten überhaupt erst einmal katalogartige Bestandsaufnahmen der in Frage stehenden Bauwerke erarbeiten werden, um somit die notwendige Vorstufe für die komparative Arbeit betreten zu können.

 

 

Aufbau und Inhalt der Studie

 

Im konzeptuellen Teil wird zunächst der zentrale Zusammenhang institutioneller Ordnungsmechanismen und architektonischer Symbolisierung umrissen. Dies erlaubt erstens die genauere Definition dessen, was unter institutionellen Ordnungen und Mechanismen sowie unter architektonischer Symbolisierung überhaupt verstanden werden kann, und soll zweitens diese Setzungen erklärend legitimieren. Der Gesamtansatz vermag dadurch zusätzliche Profilschärfe zu gewinnen. Zudem kann seine Rolle als Vermittlungstheorie, die in möglichst viele Richtungen anschlussfähig sein soll, plastisch werden. In Vorgriffen auf unseren Durchführungsteil kann diese konzeptuelle Zuschneidung dabei bereits mit einer gewissen Anschaulichkeit gefüllt werden.

Da wir unser Zeitfenster als eines betrachten, das vor allem durch das Phänomen des architektonischen Historismus und damit der Neostile gekennzeichnet ist, müssen wir es in seinen Aspekten und Auswirkungen genauer skizzieren. Vor allem die Anbindung an Fragen der Identitätskonstruktion ist hier zentral und wird aus einer semiotischen Perspektive angegangen. Sie kann die Spannung zwischen einer Aufladung mit immensen identitären Erwartungen und dem simultanen Zerfallen von Geltungsbehauptungen, die Konstruktion und Wahrnehmung historistischer Architekturen kennzeichnet, tiefergehend verständlich machen. Vor allem die wertgebundene, undifferenzierte Perspektive des Gegenbildes des architektonischen Historismus, der Moderne, wird hier skizziert, da sie eine genauere Beschäftigung mit dem als geschichtsverfallen, nostalgisch geltenden Jahrhundert lange verstellt hat. Wir versuchen, ihr dichotomisches wie zugleich monistisches Bild zu hinterfragen, das vor allem mit einer allgemeinen Abwertung des Stilbegriffs einherging. Gerade diesem kommt in unserer Studie aufgrund seiner Bedeutung für Identitätskonstruktionen zentrale Bedeutung zu. An dieser Stelle muss unsere Studie auch zum ersten Mal komparativ ausdifferenziert werden.

Denn das Großparadigma des Historismus ist nicht nur eine zeitgebundene Größe, sondern auch in einen nationalspezifischen Diskurs eingebunden: In Frankreich besetzte lange Zeit viel eher das Komplementärkonzept des Eklektizismus den Platz, den der Historismus in den deutschen Selbstverständigungsdiskursen einnahm. Es ist überaus aufschlussreich, die nationalen Karrieren dieser, so unsere These, nur idealtypisch zu trennenden Konzepte zu rekonstruieren. Wir werden tiefenstrukturelle Erklärungen für ihre Funktion als jeweils einseitige Akzentuierung eines eigentlich grenzübergreifenden Problems anbieten, die diese kunsthistorischen Konzepte vor allem auch als kollektive Repräsentationen soziopolitischer Generalbedingungen begreifen. Mit diesen Reflexionen zur Paradigmengeschichte wird dann der spätere Blick auf die „Realentwicklungen“ der Architekturgeschichte vorbereitet.

Ähnliche komparative Ausdifferenzierung bietet sich auch für den bereits skizzierten Generalrahmen an, in dem wir unsere Studie verorten: Die politische Ikonologie ist als konzeptuell expliziertes Forschungskonzept eng an deutsche und – über bestimmte Austauschprozesse – auch an angelsächsische Paradigmentraditionen gebunden. Jenseits dieses generellen Eindrucks kann aber auch im frankophonen Raum ein Arkandiskurs ikonologischen Denkens ausgemacht werden. Dieser ist hochinteressant, weil er sich, möglicher Weise aufgrund seiner Außenperspektive, kritisch mit Begrenzungen des klassischen ikonologischen Denkens auseinandergesetzt und letzteres dadurch für Anwendungen in anderen als den ursprünglichen Kontexten geöffnet hat. Diese wenig beachtete Unterströmung ermöglicht es uns, eine Ikonologie nicht nur der Architektur allgemein, sondern speziell der Epoche des Historismus zu entwickeln und somit die Skizzen des vorangehenden Kapitels mit einer genuin kunstwissenschaftlichen Konzeptualisierung zusammenzuführen. Sie kann als Brückenschlag zwischen nationalen Paradigmentraditionen gelten, die dadurch weniger fern erscheinen, als dies auf den ersten Blick vermutet werden mag.

Aber auch unser Gegenstand, die öffentliche Architektur, wurde in beiden Ländern als ähnlich strukturiert wahrgenommen – eine Grundbedingung für seine Vergleichbarkeit, die zumindest einen kongruenten Parameter voraussetzt. Das Konzept von öffentlicher Architektur setzte sich vor allem im nachrevolutionären Frankreich, in dessen Nachfolge aber auch in Deutschland, wo sich die Bedingungen von Herrschaft ebenfalls veränderten, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts durch und erreichte in seinem letzten Drittel bereits umfassende Ausprägung. Derartige Aspekte sind deshalb zentral, weil die Ablösung personal zentraler Machtstrukturen durch die Idee eines Kollektivs, für das entsprechende Bauten bereit gestellt werden müssen, konstitutiv für Ziel und Reichweite von symbolisch getragenen Identitätskonstruktionen war. In einer oszillierenden Parallellektüre einschlägiger Texte wird die jeweilige Anbindung der Genese des Konzeptes wie auch seiner kanonischen Füllung mit bestimmten Inhalten vergleichend nachgezeichnet. Auch bei einer derartigen Begriffsgeschichte kann der Konnex zu national differenten soziopolitischen Horizonten nicht vernachlässigt werden.

Die Ausprägung eines Konzeptes öffentlicher Architektur sowie dessen Materialisierung wurde von der entsprechenden Genese einer Institutionenlandschaft begleitet und getragen, die ausschließlich mit der Schaffung bzw. Supervision öffentlicher Architekturen sowie der Ausbildung kompetenter Architekten und Baubeamten beauftragt war. Charakter und Performance, spezifische Leitideen und deren Umsetzung in die Praxis werden daher skizziert, und zwar in Entsprechung zum vorangehenden Bezugskapitel einer Perspektive der longue durée, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts hinabreicht. Nur so können die entsprechenden institutionellen Mechanismen und die komplexen Spielregeln der verschiedenen Instanzen vor dem Hintergrund der Frage von Kontinuität als Bewältigung politisch-sozialer Brüche komparativ veranschaulicht werden. Wenn wir den Ausführungen zur Phänomengeschichte eine derartige Skizze voranstellen, ist damit allerdings nicht die Ermittlung institutioneller Faktoren als nicht weiter reduzibler Kausalursprünge, sondern nur die Analyse eines kontextuellen Rahmens gemeint, die von ähnlichen Verwerfungen und Deutungskämpfen durchzogen wurde wie die Ausgestaltung des Sichtbaren selbst. Er steuerte letztere nicht nur, sondern verarbeitete ihre Impulse auch reaktiv.

Das umkämpfte Objekt war die Gestalt der modernen Hauptstadt, die nun als symbolische Abbreviatur nationaler Identitäten begriffen und entsprechend zugeschnitten wurde. Wir beschreiben im Anschluss an die vorangehende Rahmenanalyse die Hauptstädte Berlin und Paris neben ihrer Funktion als inszenierte „Schaufenster“ für kollektive Identifikationsbilder zugleich als Arena von internen, hinter möglichst geschlossenen Oberflächen versteckten Deutungskämpfen, die zwischen verschiedenen Machtvektoren tobten. Hier kann eine komparativ konstruierte Ebene direkt mit einer solchen der realhistorisch dokumentierten Bespiegelung kurzgeschlossen werden. Denn beide Kapitalen verspürten nicht nur intern den Druck konkurrierender Interessen und Intentionen, sondern wurden auch extern in einen gegenseitigen Prestigekampf verwickelt, der zudem wiederum ihren Status und ihre Geltungskraft auch innerhalb des nationalstaatlichen Territoriums beeinflussen sollte.

Nachdem auch diese Mehrebeneninterdependenz skizzenartig problematisiert worden ist, muss ihre Manifestation in der Stadtplanung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur unteren zeitlichen Ansatzfläche unser Studie in den Jahren 1870/1871 untersucht werden, da in den Strategien der Strukturierung des urbanen Raumes wichtige Vorgaben für die Platzierung und Wirkung von einzelnen öffentlichen Architekturen geschaffen wurden. Diese Ausdeutung des urbanen Raumes durch die wichtigsten öffentlichen Monumente werden anschließend genauer analysiert. Dabei berücksichtigen wir insbesondere den Gesichtspunkt der symbolischen Manifestation der im vorangehenden Kapitel ausgemachten Machtvektoren, die stets an der Schaffung von dem jeweils verbindlichen Geschichtsbild entsprechenden „Erinnerungsräumen“ interessiert waren. Dieser Überblick dient zugleich als historische Folie, vor der sich die Untersuchungen zur Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg abheben sollen, und stellt insofern – ohne dies teleologisch zu meinen – „Vorgeschichte“ da. Denn hier gilt ganz besonders, dass Gegenwärtiges seine spezifische Bedeutung nur im Verhältnis zum Vorhergehenden annimmt, sei es gemäss einer Abgrenzungs- oder einer Anschlusslogik oder ihrer Mischung,.

Dies wird besonders im an diese Rahmenanalysen anschließenden eigentlichen Durchführungsteil konkretisiert. Er wird durch ein monographisches Kapitel eröffnet, das einem Monument der französischen Hauptstadt gewidmet ist: Die basilique du Sacré-Cœur grüßt den nach Paris Gereisten schon von Ferne und stellt häufig einen der zuerst besuchten hauts lieux dar. Aber nicht nur die anekdotische Analogie zu einem realen Besuch in der französischen Hauptstadt motiviert das genauere Studium dieses dominanten Supersymbols. Aufgrund seiner visuellen Omnipräsenz, seiner Komplexität und seiner stilistischen Besonderheit eignet es sich hervorragend zur Veranschaulichung der konzeptuellen Ausführungen zur symbolischen Dimension institutioneller Identitätsgebungsmechanismen. Die Generierung institutioneller Eigengeschichtlichkeit lässt sich anhand dieses Präsenzsymbols kirchlichen Geltungsanspruches, der sich einer faktischen Krise und Bedrohung zu erwehren hatte, exemplarisch nachvollziehen. Zudem hat die mythische Zirkularität von kunsthistorischem Diskurs und stilistischer Form hier ihren beeindruckendsten Synergieeffekt entfaltet, der sich vor allem als Präsenzsimulation der Kontinuität einer archaischen Vergangenheit präsentiert.

Gegenbild einer derartig dominanten Sakralarchitektur, die erst sieben Jahre nach der Laizisierung, im Jahre 1913, im strengen Sinne Teil des Bestandes öffentlicher (in diesem Fall munizipaler) Architektur wurde, waren die Monumente weltlicher Macht. Kern dieser politischen Architekturen mussten in einer parlamentarischen Republik, also der Troisième République, das bzw. die Parlamentsgebäude sein. Aber auch im Deutschen Kaiserreich – lediglich eine konstitutionelle Monarchie – sollte das neu entstandene Reichstagsgebäude als symbolischer Katalysator für kollektive Selbstverständigungsprozesse fungieren. Da es sich hierbei um einen explizit für die parlamentarische Nutzung geschaffenen Neubau handelte, der nicht nur als würdevoller Sitz für die Abgeordnetenversammlung, sondern vor allem auch als triumphales Monument der Reichseinigung diente, eignet es sich hervorragend für die Eröffnung einer komparativen Studie zur politischen Ikonologie öffentlicher Architekturen. Monographische Ausführungen zum französischen Pendant, das schon wesentlich länger bestand und kontinuierlich modifiziert worden war, folgen. Durch historische Rückblicke kann hier die zentrale Rolle der französischen Parlamentsbauten bei der Genese und Durchsetzung von Idee und Gestalt öffentlicher Architekturen verdeutlicht werden.

Als interner Gegenpol zur Weiternutzung bzw. Wiederaneignung des überlieferten Parlamentsgebäudes durch die Dritte Republik wird ein zusätzlicher Druckpunkt eingeführt, an dem sich die symbolische Politik des republikanischen Regimes deutlicher manifestieren konnte. Die Ruinen des im Jahre 1871 von der Commune in Schutt und Asche gelegten Tuilerienschlosses wurden ab 1883 systematisch abgetragen, und somit konnte ein Kernobjekt der monarchisch-imperialen Vergangenheit öffentlichkeitswirksam aus dem Stadtraum getilgt werden. In einem Vergleich werden anschließend die jeweils monographischen Ausführungen zur deutschen und französischen Parlamentsarchitektur zusammengeführt. Dabei kann unser allgemeiner Symbolbegriff ausdifferenziert und zudem auch auf den der Repräsentation eingegangen werden, zumal hier architektonische Repräsentationen von Repräsentativinstitutionen vorliegen: Diese doppelte Ebene und ihre Rückkoppelungen mit der politischen Repräsentation verkomplizieren das vergleichende Studium der angestrengten Bestrebungen, hier Eindeutigkeit der Bedeutungen zu schaffen – was selten gelang.

Bei diesen architektonischen Visualisierungen nationaler Repräsentativinstitutionen wurde der Zusammenhang zwischen institutioneller Symbolisierung und nationalen Identitätsparadigmen zudem vor der Doppelfrage von Kontinuität und ihrem Bruch besonders deutlich. Dass man den Terminus des Ikon auch auf Architekturen anwenden kann, die ja zunächst einmal besonderen funktionellen Anforderungen von Großversammlungen genügen müssen, vermag der durchgeführte Vergleich deutlich vor Augen zu führen; dies zumal, wenn man den beinahe fetischartigen Status vor allem des französischen Beispiels in nationalidentitären Selbstverständigungsdiskursen berücksichtigt, aber auch, wenn man sich die Rolle des sich gleichsam filmisch transformierenden Kulissendekors Reichstag für die verworfene Geschichte der Demokratie in Deutschland vergegenwärtigt.

Alle folgenden Kapitel sind nicht, wie bisher, zunächst monographisch angelegt, sondern schneiden ihren jeweiligen Gegenstand direkt auf Vergleichbarkeit zu. Dies gilt für z.B. unsere fortgesetzte Beschäftigung mit architektonischen Symbolisierungen staatlicher Macht. Diese war und ist vor allem immer politische Exekutivgewalt, die in entsprechenden Bauten für deren Chef (den Präsidenten bzw. Reichskanzler), für die entsprechenden Regierungsressorts und andere zentrale Organe der ausführenden Gewalt ihren Niederschlag gefunden hat. Hier erweist sich wiederum eine weiter zurückreichende historische Perspektive als nützlich, um sowohl die Probleme in der „preußischen Haupt- und Residenzstadt“, die zum neuen Mittelpunkt des Reiches aufgestiegen war, als auch in der Kapitale der Dritten Republik zu erfassen. In Paris knüpfte neben der Legislative nach Jahren des Provisoriums auch die Exekutive wieder an die tradierten Orte der Macht an, schnitt die bestehenden Architekturen vorsichtig modifizierend auf die Wiederaneignung zu und schuf lediglich neue Indizes der Bedeutungszuweisung, die bezeichnender Weise zumeist außerhalb des architektonischen Mediums realisiert wurden (vor allem als Skulptur und Malerei). Das ererbte Prestige der Traditionsorte wurde auf die neuen, demokratisch legitimierten Machthaber übertragen, ohne dass dabei die exklusive Konnotation dieser architektonischen Ensembles ein Hindernis darstellte, im Gegenteil. Im zeitgenössischen Berlin hingegen griff eine Logik der relativen symbolischen Ausdifferenzierung, ja Absetzung. Denn hier waren die Regierungsinstanzen des Kaiserreiches von Anfang an durch eine Tendenz zur „Verpreußung“ des föderalen Bundesstaates Reich in ihrer Autonomie bedroht. Ebenso wie die Reichsämter sich in einem allmählichen Prozess institutionell von Preußen freischwimmen mussten, griffen auch bei ihrer architektonischen Symbolisierung zunehmend Strategien der Loslösung von dem bisher im preußischen Ministerial- und Verwaltungsbau verbindlichen Stil der Berliner Schule.

Auch wenn andere institutionelle Niveaus als nur der Staat, wie die Kommune oder der städtische Bezirk, impliziert sind, gilt vor allem ersterer doch als Garant der Rechtsordnung, nach der die bürgerliche Gesellschaft verfasst ist. Die Bedeutung judiziärer Prinzipien und ihrer Durchsetzung wird vor allem in sog. Justizpalästen deutlich, die besonders in Berlin aber wiederum nur Teil eines weit verzweigten Netzwerkes der Instanzen der Judikative waren. Dass hier entweder bauliche Massierung und Konzentration (wie in Paris) oder eben möglichst flächendeckende Verteilung der Maschen dieses Netzes als effektiver Mechanismus der baulichen Präsenzmachung der Justizordnung in der modernen Hauptstadt – immer auch Hauptstadt der Kriminalität– gelten konnten, soll der Vergleich Berliner und Pariser Justizarchitektur verdeutlichen:

Im Falle des Palais de Justice, das in der Commune beschädigt worden war, entschloss man sich für eine schnelle bauliche Instandsetzung und dabei für eine Kontinuitätssuggestion, die gerade in der Fortführung der bereits seit dem Anfang des Jahrhunderts bestehenden Modifikationspraxis bestand. Erst die späte, nach mehren Krisen triumphierende Republik wagte es hier, ihre eigenen Akzentuierungen zu setzen, die nur als leichte charakterliche Verschiebungen, keinesfalls aber als Brüche innerhalb des gigantischen Traditionsensembles wahrgenommen werden konnten. Dass in Berlin, der jungen Hauptstadt, gar kein in Umfang und Prestige vergleichbarer Traditionsbestand an Gerichtsarchitektur vorlag, weist noch einmal auf die Asymmetrie hin, die zwangsläufig zwischen dem Entwicklungsstand der alten Metropole an der Seine und der an der Spree bestand. Der sprungartige Ausbau Berlins zu einem Zentrum der Rechtsprechung im Staate Preußen und bedingt auch im Reich, der einige monumentale Architekturen hervorbrachte, musste hier zwangsläufig als Neuerung wahrgenommen werden.

Auch wenn man bei Postbauten heutzutage eher an Schalterhallen und Briefmarken bzw. an Probleme der Privatisierung als an staatliche Macht denkt, waren diese im 19. Jahrhundert ein Bautypus, der ganz besonders zur Symbolisierung etatistischer Machtfülle diente und daher prachtvoll entfaltet wurde. Daher findet er auch in unserer Studie Berücksichtigung, ja kann geradezu idealtypisch veranschaulichen, dass politische Geltungsansprüche auch Infrastruktur- bzw. Nutzbauten erfassten und formten. Insbesondere das neugegründete Reich fand hier nicht nur ein funktional, sondern vor allem symbolisch zu meisterndes Feld vor, durch das die Verfügung über ein geeintes Staatsterritorium veranschaulicht und die Modernität des Nationalstaates auch in infrastruktureller Perspektive bewiesen werden konnte. Zudem liegt hier in der öffentlichen Zugänglichkeit dieser Bauten und im Dienstleistungscharakter der Institution Post selbst eine exemplarische Einlösung von Charakteristika öffentlicher Architekturen vor. Ein ganz ähnlicher Kompromisscharakter wie schon bei der Pariser Gerichtsarchitektur, die viel stärker als ihr Berliner Pendant im Bann der großen Traditionsverpflichtung stand, wurde auch im ebenso zentralen hôtel des postes angestrebt, das durch seinen Ausbau zu einem republikanischen Palais gleichermaßen funktionalistischen Perfektionierungsträumen wie traditionellen Erwartungen an eine „würdige Repräsentation“ genügen sollte. Betont klassischer Grundton und rationalistische Substruktur wurden hier in eine Spannungsbalance gebracht, die verdeutlicht, dass die Kontinuitätswahrung der Tradition auf die Integration minimaler Fortschrittsparameter angewiesen war. Ähnlich wie in Paris wurde der Postbau in Berlin mit politischen, ja imperialen Geltungserwartungen unterlegt. Da hier aber erneut kaum eine monumentale Eigentradition bestand, wurden bei der Schaffung eines dichten Netzwerkes von Postbauten im Hauptstadtraum zunächst Anleihen bei einer italienisierenden Neorenaissance, dann bei einem eklektizistischen Neobarock gemacht, während vor allem im Berliner Umland auch  noch andere, kontextbezogenere Stilformen eingesetzt werden konnten. Auch hier erfolgte über die opulent-historistische „Erfindung“ einer Tradition wiederum eine Absetzung vom bisherigen preußischen Verwaltungs- und Infrastrukturbau.

Da aber, wie schon entwickelt, die Hauptstädte nicht nur von staatlicher Gewalt dominiert wurden, sondern sich hier auch zunehmend kommunales Selbstbewusstsein entwickelte und institutionell durchsetzte, finden sich in ihnen auch offizielle Monumente der bürgerlicher Macht und des Erfolges: So bieten sich „Rotes Rathaus“ und Pariser Hôtel de Ville als Ansatzflächen für einen Vergleich symbolischer Strategien der Durchsetzung bürgerlicher Interessen an, die aber stets nur im Kräfteparallelogramm mit den staatlichen Ansprüchen Geltung erlangen konnten. Insbesondere in Paris kann Konvergenz und Konflikt der kommunalen mit der nationalen Ebene deutlich werden. Insofern kann man diese Ausführungen auch als Konkretion unserer allgemeineren Überlegungen zu Deutungskämpfen in den Hauptstädten sehen. Der Einsatz von bestimmten, historisch verbürgten Stilen trägt hier ganz deutlich die Markierung politisch-institutioneller Geltungsansprüche, wobei insbesondere die Funktion historisierender Verfahren als Medium des Prestigetransfers und der zeitlichen Kontinuitätssuggestion deutlich wird.

Die unterschiedlichen Grade an Eklektizismus, der hier vertreten wurden, erweisen sich einmal mehr als aussagekräftige Differenz zwischen Spree- und Seinestadt, auch wenn beide Male eine Steigerungslogik vertreten wurde. Das Hôtel de Ville wurde derart vorbildgetreu rekonstruiert, dass es das ungeübte Auge für ein „authentisches“ Renaissanceensemble halten könnte. Es ließ sich jenseits aller um Deutungshoheiten geführten Institutionenkämpfe als regelrechte restitutio, als perfekte Traditionssimulation deuten, die als Musterbeispiel für die Verdeckung von jüngst erfolgten, unangenehme Erinnerungen beschwörenden Vernarbungen im Stadtkörper gelten konnte. Bei der Wiederherstellung der Renaissancearchitektur machte sich eine im Kontext der sonst dominanten Klassizismen unbekannte „Nationalisierung“ des Stils geltend, die das wiedererstandene Monument als Phoenix aus der Asche metaphorisierte, der eine nationale Renaissance ankündigte. Der Gegensatz zu Berlin, wo seit der Jahrhundertmitte erstmals ein repräsentativer Rathausbau entstand, der überhaupt mit dem Pariser Hôtel de Ville vergleichbar war, liegt bei der Untersuchung der Schaffung eines Simulakrums der zerstörten Tradition in Paris auf der Hand.

Denn der Bau des Berliner Rathauses war vor allem von der Absicht getragen, ein modernes Munizipalhauses zu schaffen – eine im Verhältnis zu Paris konträre Leitidee. Hier an der Spree wurde in der historistischen Synthese verschiedenster Eigen- und Fremdanleihen, die vorwiegend einem typologischen Raster folgten, vor allem einer Internationalisierung der Architektursprache Vorschub geleistet. Um diesen architektonischen Kampf um Deutungshoheiten als ein komplettes Paradigma zu entfalten, müssen wir auch die Rathäuser des Berliner Großraums und die mairies d’arrondissement untersuchen, angesichts derer die jeweils verschieden akzentuierte Schere zwischen Diversität und Homogenität als Kernproblem dieses als multipler Phänotypus (Berlin) bzw. als Inkarnation eines durchdeklinierten Modells (Paris) erscheinenden Bautypus auftritt.

Der dritte große Sektor neben den öffentlichen Bauten des Staates bzw. der Städte, die wir in unserer Studie untersuchen, ist der der Kultur- und Kultusbauten. Hier interferieren also ebenfalls verschiedene institutionelle Ebenen, wie am Beispiel der Museen deutlich wird. Nicht nur in Sammlungs- und Ausstellungskonzepten, sondern auch in ihrer architektonischen Inszenierung und Überhöhung lagen Experimentierfelder für kollektive Identitätskonstrukte vor, die vom Anspruch nationaler Größe bis zur versuchten Eigengeschichtsgebung kleinster Institutionen reichen können. So tut sich hier ein komparatives Panorama kultureller Praktiken und Symbolisierungen auf, dessen politische Einschreibungen nicht immer leicht erkenntlich sind, da hier die funktionellen Anforderungen zumeist die von Kunst und Wissenschaft sind, also idealtypisch autonom verfassten Subsystemen.

Dennoch kann ein aussagekräftiges Panorama entwickelt werden, wenn man deren Konnotationen zu entschlüsseln versucht – wozu häufig gerade die eingesetzte Architektursprache mit ihrer charakteristischen Stilcodierung Entscheidendes beiträgt. Auch im Pariser Museumsbau bestanden bereits ultimative institutionelle und architektonische Vorgaben vor allem in Form des Louvre. Im Wesentlichen an der Prägkraft dieser Formel orientiert blieb der Palaistypus, der bei der beachtlichen institutionellen Diversifizierung der Museumslandschaft unter der kulturbewussten Republik mit Vorliebe eingesetzt wurde und stilistische Ausformungen zwischen Neorenaissance und -klassik erfahren konnte, wenn auch vor allem im Sektor des Wissenschaftsmuseums nun deutliche rationalistische Einschreibungen erfolgten. Die Überhöhung der vollendeten Demokratisierung der ererbten Kunstschätze, ein Engagement für die zeitgenössische Kunstproduktion sowie den wissenschaftlich-zivilisatorischen Fortschritt wurden auch hier stets, trotz aller Aktualitäts- und Fortschrittsfixierung, als die Fortschreibung einer großen Sammlungs- und Wissenschaftstradition unter veränderten Vorzeichen gesehen und verlangten nach einer entsprechend kontinuitätsbetonten Perspektive. Die Museumsarchitektur in Berlin spiegelt in sich zwar die im Verhältnis zu Paris auffallenden, relativen Distanznahmen, aber im weiteren Ausbau der Museumsinsel, die schon seit der ersten Jahrhunderthälfte zu einem zentralen Standort, ja einer Art „Kulturforum“ bestimmt worden war, springt eine auffallende Kontinuität ins Auge: Hier war „Spreeathen“ einmal nicht traditionsarm und hatte schon früh den Aufschluss zu den anderen europäischen Metropolen, allen voran Paris, versucht. Der kontinuierliche Ausbau der Museumsinsel nach der Reichsgründung blieb trotz gewisser Verschiebungen weiterhin der Leitidee von Zentralität und klassischer Einheit verpflichtet. Letztere war vor allem in der Form des Museumstempels – und nicht des Palais wie in Frankreich – inkarniert, die auf der Museumsinsel weiterhin zeitbedingte Variationen erfuhr. Nicht primär die Idee einer Freisetzung ehemals monarchischer Sammlungen dominierte hier, sondern die antikisch-hehre Vision eines künstlerischen Arkadiens, die ihre Dignität aus sich selbst gewann.

Der Kreis der Studie wird abgeschlossen, indem wiederum – diesmal allerdings überblicksartig – auf die Sakralarchitektur katholischer und protestantischer Konfession sowie jüdischer Religion eingegangen wird. Als Sonderfall der öffentlichen Bauten, die sie in Frankreich übrigens auch nach der Laizisierung blieb, bricht sich in der Sakralarchitektur prismatisch der Einfluss sowohl der öffentlichen Gewalten wie auch der innerinstitutionellen Geltungsansprüche. Da in beiden Staaten auf spezifische Weise der Status von Religion und Staat bzw. Gesellschaft ein Politikum war, kann man den Sakralbau ex negativo als essentiell politische Architektur begreifen. Der christliche Sakralbau stellt aufgrund seiner Sonderrolle in der Landschaft öffentlicher Bauten in beiden Städten also eine Art Umkehrbild der sonstigen Problematiken dar. In Paris konnte er, insbesondere nach der séparation, aber auch schon davor, zur einzigen Domäne werden, in der konsequent neomittelalterlich gebaut wurde. Auch hier ging es primär um die Suggestion von Dauer, aber zunehmend machte sich nicht nur eine stilistische Differenz zum Kontext deutlich, die Kuriosa schuf, sondern auch ein Bemühen um die Öffnung auf Wandel und gesellschaftliche Moderne, so dass hier eine einzigartige Synthese von Archaismen und Modernismen entstand. In Berlin nahm sich der Kirchenbau auch nach der Reichsgründung besonders traditionalistisch aus, weil hier die Kontinuität der preußischen Dynastie und sozialdefensive Ideologeme als zentrale Bezüge im Hintergrund standen. Der Spielraum für experimentelle Innovationen oder Syntheseversuche von Alt und Neu war auffallend eng, und das symbolische Abgrenzungsbedürfnis, dass auf anderen Sektoren des öffentlichen Bauens bestand, machte sich hier kaum geltend, auch wenn der quantitative Aufschwung des Kirchenbaus in der wachsenden Hauptstadt ein Novum war.

Jenseits dieser Großtendenzen ist aufgrund unterschiedlicher poltisch-sozialer und materieller Situation der Bekenntnisse sowie differenter ontologischer Status und kultischer Anforderungen der Architekturen eine konfessionell ausdifferenzierte Analyse erforderlich. Angesichts konträrer Mehrheitsverhältnisse zwischen Protestanten und Katholiken in beiden Ländern muss ein komplexer Über-Kreuz-Vergleich geführt werden. Im Anschluss daran wird der „Diaspora-Architektur“ des Judaismus und ihrem faszinierenden Changieren zwischen Integrations- und Besonderungssymbolik Aufmerksamkeit zuteil. Aufgrund früher Emanzipation und staatlich geförderten Assimilation der französischen Juden gestaltete sich auch der israelitische Sakralbau, der im 19. Jahrhundert einen deutlichen Aufschwung nahm, in von den christlichen Kultusbauten vorgezeichneten Bahnen. Trotz einer hohen dogmatischen und sozialen Diversität des Pariser Judentums war die vorherrschende Tendenz, die schon im Second Empire ausgeprägt worden war, die einer weitgehenden visuellen Anpassung an den neoromanischen Kirchenbau, und zwar sowohl hinsichtlich Außengestaltung als auch Innendisposition. Die orientalisierenden Einschläge, die in anderen Kontexten als Indikatoren eines im Zeichen der Differenz stehenden Auto- und Fremdstereotyps eingesetzt wurden, blieben auch unter der Dritten Republik schwach und bedienten sich höchstens des aus katholischem Kontext bekannten Romano-Byzantinismus.

Aufgrund eines weniger emanzipierten rechtlichen Status, einer bis zum Ende des Kaiserreiches trotz schließlicher staatsbürgerlicher Egalisierung ambivalent bleibenden obrigkeitlichen und gesellschaftlichen Haltung, einer immensen sozialen Diversität und intensiver interner, religiöser Kämpfe um Deutungshoheiten war die architektonische Symbolisierung des Berliner Judentums im Vergleich zu Paris extrem vielgestaltig aufgefächert und folgte nicht einmal einer durchgehenden Korrespondenzmatrix zwischen religiöser Ausrichtung und Stilwahl bzw. repräsentativem Aufwand. Hier fanden historistisch-eklektizistische Differenzästhetiken ihren Ort, die z.B. in Form monumentaler orientalistischer Synagogenbauten ganz neuartige, im Stadtbild bisher ungekannte Akzente implementieren konnten und somit als visuelle Brüche wahrgenommen wurden, zumal in Berlin bisher keine ausgeprägte Tradition symbolischer Präsenz der Israeliten bestand. Darüber hinaus herrschte eine Varietät der symbolischen Strategien, die die gesamte Bandbreite von divergierenden Identitätsentwürfen des kaiserzeitlichen Berliner Judentums zwischen Assimilation und orthodoxer Besonderung reflektieren. Bei allen Objekten erweist sich die (Neo-)Stilfrage als zentrales Medium, über das institutionelle Identitätsentwürfe verhandelt wurden: Eklektizistischer Historismus und institutionelle Identitätssuche der Konfessionen bzw. Religionen sind hier nur idealtypisch zu trennende Extrapolationen des selben Zusammenhanges.

Abschließend wird dieser Durchgang durch verschiedene Materialgruppen noch einmal synthetisch auf die Zentralfrage institutioneller Symbolisierung zugeschnitten, aber dabei die hohe Auflösung, die auf niedrigen institutionellen Niveaus von Einzelinstitutionen wie Parlamenten, kommunalen Administrationen oder der Kirche ansetzt, zugunsten einer gröberen Zusammenschau aufgeben: Hier wird die Frage kollektiver Identitätsbildung nun mit Blick auf Großinstitution absoluten Anspruches wie den Nationalstaat und die sich darin politische Form gebende Gesellschaft untersucht. Kurz: Die soziopolitischen Systeme der Dritten Französischen Republik und des Zweiten Deutschen Kaiserreiches werden vergleichend auf charakteristische institutionelle Symbolisierungsmechanismen hin diskutiert.

Dabei müssen provisorischer und begrenzter Charakter unserer Studie in Rechnung gestellt werden. Einerseits können auf deutscher und französischer Seite jeweils verschieden stark artikulierte und different ausgeformte Präferenzen in den verschiedenen Sektoren des öffentlichen Bauens, die wir untersucht haben, ausgemacht werden. Das heißt, dass die Vergleichbarkeit, die an identischen institutionellen Funktionen ansetzte, häufig nicht automatisch Gleichwertigkeit innerhalb der jeweiligen architekturpolitischen Schwerpunkte der beiden Systeme implizieren muss. Zudem ist unsere Gegenstandsbegrenzung hochselektiv. Dass die Fülle an Material, sowohl an Bauwerken wie an darauf bezogener Literatur, mit dem Ziel annähernd erschöpfender Sichtung nur im Forschungsverbund hätte bewältigt werden können, kann allerdings jenseits der Arbitrarität von notwendigen Auswahlentscheidungen selbst wiederum historische Aussagekraft gewinnen: Die Tatsche, dass das Deutsche Kaiserreich in seiner Hauptstadt eine besonders umfangreiche Bauaktivität in Gang gesetzt hat, korrespondiert mit dem offiziellen Geschichtsbild, das die nationale Einigung im Reich als Erfüllung eines Traumes metaphorisierte. Aber auch in Paris wurden allen ungünstigen historischen Bedingungen zum Trotz seit der institutionellen Stabilisierung der Dritten Republik bis zum Ersten Weltkrieg immerhin so viele architektonische Realisierungen geschaffen, dass sie nicht durch einen einzelnen Forscher annähernd zu erfassen bzw. in eine Überblicksdarstellung zu bringen sind, wenn diese mehr als nur schematische Aussagen machen soll. Versuchen wir dennoch eine Ergebnisbilanz unserer Forschungen:

 

 

Synthetische Zusammenstellung einiger Ergebnisse

 

Der Wechsel vom Second Empire zur Dritten Republik war der wohl schärfte politische und ideologische Einschnitt in der Abfolge der politischen Regimes im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Die Härte des Kampfes um die Durchsetzung, d.h. die institutionelle Stabilisierung des republikanischen Systems, kann Zeugnis von der intensiven Wahrnehmung dieses Bruchs Zeugnis ablegen. Wichtige Reformen der Republik wie die Schaffung eines laizistischen Schulsystems oder die Trennung von Staat und Kirche waren Aushängeschilder des im Dienste des sozialen und zivilisatorischen Fortschritts stehenden republikanischen Gesamtprojektes. Auch wenn man diese Maßnahmen auf eine Mythisierung hin befragt und in ihrem Modernisierungs- und Reformimpetus nur die eigentliche Absicht erkennt, die Basis für einen zukünftigen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, bleibt immer noch der Eindruck bestehen, dass es hier vor allem um die intentionale Inszenierung von Brüchen ging. Vor diesem Hintergrund erstaunt das Gewicht, mit dem sich Traditionalismen in der architektonischen Symbolisierung des republikanischen Regimes geltend machten. Hier ging es, vor allem in der frühen, noch konservativ bestimmten Republik, um die Überwindung, ja die Verdeckung von Brüchen und die Suggestion von Kontinuität, wie wir an zahlreichen Beispielen zeigen konnten:

Commune und Bürgerkrieg als Bedrohung interner Kohärenz, Niederlage und geschmälerte international-machtpolitische Bedeutung als äußere Verletzungen ließen hier reflexartig zu tradierten Symbolisierungsstrategien greifen. Aufgrund der daraus abgeleiteten habituellen Sicherheit und Stabilitätssuggestion blieb auch das im weitesten Sinne klassische architektonische Vokabular weitestgehend in Geltung, selbst wenn es gewisse Neuakzentuierungen erfahren konnte. Die Variation bestätigte hier eigentlich mehr das Grundthema, als es tiefgreifend zu relativieren. Aufgrund der universalistischen Subschicht, mit der die Geltungsbehauptungen der klassischen Architektursprache vom Grand Siècle über die Revolution bis zur Haussmannschen Phase unterlegt waren und blieben, stellte sich hier im Vergleich zu Berlin die Frage nach der nationalen Geltung von Stilen in expliziter Form eher selten, da sie hier gemäß einer Logik der Konvergenz von Zentrum (Paris, Hauptstadt Frankreichs und capitale du monde) und Peripherie in die etablierten Symbolisierungsstrategien wie selbstverständlich inkludiert war. Ausnahme war vor allem das in gewisser Weise vorklassische Idiom der „französischen Renaissance“, das vor allem im Kontext von Rekonstruktionen (Hôtel de Ville, Tuileries) als explizites und nationalspezifisches Paradigma überhöht wurde.

Ein etabliertes Spiel routinierter Ausbildungs- bzw. Kontrollinstitutionen der Architekturproduktion, die bereits auf lange Performances innerhalb eines flexiblen Aushandlungssystems verweisen konnten, stützte die visuelle Kontinuitätssuggestion, in die sie ihr Gewicht als Traditionsagenten einbringen konnten. Das Objekt ihres Zusammenspiels, die Architektur und die urbane Gesamtgestalt der Hauptstadt, war sowieso in einem derart hohen Grade durch die vorangegangene Phase der Haussmannisierung geprägt, dass etwas Anderes als die Fortsetzung von deren urbanistischen Leitideen wie Homogenität, Axialität, kontrollierbare Ordnung und Monumentalität kaum denkbar schien. Nur ein zweiter Blick, den wir in unseren Einzelkapiteln wagen, kann die neuen Akzente und graduellen Verschiebungen erkennen, die sich hinter dieser Anknüpfungslogik verbargen.

In Berlin machte sich hingegen das Masternarrativ einer politischen Teleologie geltend, die vor allem die preußische Geschichte als konstitutive „Vorgeschichte“ begriff und sie in eine spezifische, als deren notwendige Folge präsentierte Ergebnisversion überführte, nämlich die unter borussischer Führung im Reich geeinte deutsche Nation. Hier machte sich also eine kontinuierliche Mythologie der Steigerung und Vollendung geltend. Da aber Berlin noch nie zuvor Hauptstadt eines Hohenzollernkaisertums gewesen war, das nun an der Spitze des föderalen Bundesstaates Deutsches Reich stand, mussten sich trotz aller Kontinuitätsbeschwörungen, wenn nicht Brüche geltend machen, so doch zumindest ungekannte Neuerungen durchsetzen. Da hier keine Erfahrungen und habituellen Sicherheiten bei der Schaffung öffentlicher Architekturen bestanden, die für die Gesamtnation repräsentativ sein konnten, entwickelte sich Berlin zu einer Art architektonischem Experimentierfeld, das im Vergleich zu Paris durch eine höhere Diversität gekennzeichnet war. Vor allem die Bauten, die für das Deutsche Reich erstellt wurden, z.B. die Regierungsbauten und das Parlamentsgebäude, traten in eine relative Distanz zur Architektur der Berliner Schule und wurden als Bruch der borussischen Tradition wahrgenommen. Das Gesamtfeld der öffentlichen Architektur diversifizierte sich also deutlich.

Um die dadurch entstehende Unsicherheit, ja die Leerstellen zu füllen, die sich auftaten, wenn der bisherige Kontext überschritten wurde, wurde im Vergleich zu Frankreich auffallend häufig die black box des „Nationalstils“ eingesetzt, ohne dass dieser letztlich jemals positiv und dauerhaft konsensuell definiert worden wäre; sogar bei den dazu offensichtlich in keinem logischen Verhältnis stehenden, also wenig geeigneten Objekten wie dem hocheklektizistischen Reichstagsgebäude, das ganz besonders als Absetzung von der bisherigen Berliner Bautradition wahrgenommen wurde, griff die Diskussion um Nationalstile. Sie versuchten einen Exklusivitätsanspruch angesichts einer faktischen Internationalisierung der Architektursprachen aufrecht zu erhalten, die sich bei derartigen Großaufgaben beinahe zwangsläufig einstellen musste. Aber auch Architekturen für Stadt und preußischen Staat wurden ins Gravitationsfeld derartiger symbolischer Absetzungsprozesse hineingezogen, die vor allem die Bauten des Reiches hatten charakterisieren können. Denn auch bei kommunalen oder preußischen Staatsbauten konnte Modernität zu einem Eigenwert avancieren, der in dieser Expliziertheit (man denke an die Erwartungen hinsichtlich des Berliner Rathausbaus) in Paris nur in Sonderfällen artikuliert werden konnte. Und da an der Spree viele neuartige Baugattungen noch über keine entsprechende Eigentradition verfügten, konnten mangels Verpflichtung auf ein verbindliches Modell recht unterschiedliche Strategien greifen, so dass sich sogar innerhalb einer Untergattung häufig ein eklektizistisches Gesamtprofil etablierte, innerhalb dessen ganz verschiedene Historismen nebeneinander traten.

Hierzu hat sicherlich auch die bekannte Tatsache beigetragen, dass das Stadtterritorium nicht wie in Paris bereits definitiv administrativ vereinheitlicht worden war, sondern noch evoluierte. Die Umlandkommunen waren zwar zum größten Teil in symbolischer Hinsicht schon Elemente des urbanen Diskurses der Hauptstadt, aber noch administrativ autonom, was der architektonischen Diversifizierung Vorschub leistete. Die Landschaft spezialisierter Institutionen, die bei der Gestaltung öffentlicher Architektur in Berlin impliziert war, befand sich überhaupt, wie wir beschrieben haben, noch deutlich in der Fluktuation; auch hier bestand die hauptsächliche Herausforderung darin, den Sprung in einen größeren Rahmen, nämlich den der Architekturproduktion für das Reich, zu bewerkstelligen. Erst langsam autonomisierten sich die entsprechenden Institutionen von der preußischen Dominanz, konnten aber in Synergie mit der realen Entwicklung der öffentlichen Architektur auch immer stärker ästhetische Eigenkonzepte ausformulieren. Auch diese Friktionen auf institutioneller Ebene fügen sich in ein Gesamtbild ein, bei dem im Verhältnis zu Paris experimentelle Neuerung, die sich häufig vor einem Hintergrund von relativer Traditionslosigkeit uneingeschränkt entfalten konnte, und hohe Diversität ins Auge fallen. Das Verdikt Wilhelminischer Rückständigkeit und Erstarrung ist vor diesem komparativen Hintergrund zumindest zu relativieren. Im Paris der Dritten Republik hingegen war das Prinzip zeitlicher und synchroner Kohärenz bestimmend, das trotz politisch-sozialen Wandels, ja sogar angesichts von Brüchen über symbolische Kontinuitätsstrategien Uniformität sicherstellen sollte und nur in ausgesuchten Sektoren neuartige Akzentuierungen zuließ. In Berlin brachte eine evolutive, häufig teleologisch überhöhte politische Dynamik nicht nur symbolische Tradierungsanstrengungen hervor, sondern auch relative Absetzungs- und Differenzstrategien, die die neu erworbene imperiale Machtfülle als Supplement zur borussischen Tradition, die bisher die preußische Residenz- und Hauptstadt allein bestimmt hatte, zu symbolisieren hatten.

Diese Doppelbilanz korrespondiert mit der nationalen Karriere von Paradigmen, die wir unter der Polarität von Eklektizismus und Historismus nachgezeichnet haben: Während ersteres Konzept die Verhandlung und das Überspielen von Brüchen und Transformationen im nachrevolutionären, zentralistischen, national geeinten Frankreich ermöglichte und es stets auf die erhabene Komplementäridee von größtmöglicher Einheit beziehbar machte, fungierte der Historismus im erst spät national geeinten Deutschland als konzeptueller Motor für eine vorwiegend über das Geschichtliche verlaufende nationalstaatliche Einigung unter preußischer Führung in Form des föderalen Reiches, indem er in ausreichendem Maße teleologische Konstruktionen, ja Projektionen von Kontinuität ermöglichte, ohne zugleich die Akzentuierung von relativen Zäsuren, als die der „politische Quantensprung“ der Reichsgründung wahrgenommen wurde, zu unterbinden und symbolische Diversität unzulässig stark zu reduzieren.