Verbrechen und Strafe.

Georg Philipp Harsdörffers Schauplätze und ihre französischen Quellen im kriminalitätshistorischen Kontext

 

 

Mein Projekt interessiert sich für für die Thematik der Strafe, Strafverhinderung und Bestrafung im Spannungsfeld von Literatur und Recht (für eine umfassende Erörtung dieser Problematik siehe www.fu-berlin.de/bodynet/veranst/veranst.html.). Mein Untersuchungsgegenstand sind die Erzählsammlungen des Nürnberger Juristen, Dichters und Kompilators Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658), und seine wichtigste französischen Quelle, das Amphithéatre Sanglant (1640) des katholischen Bischofs Jean-Pierre Camus. Besonders Harsdörffers Schauplatz-Sammlungen verzeichneten über den Tod ihres Bearbeiters hinaus einen beachtlichen Publikumserfolg. Der Große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (1649-1650) wurde bis 1713 achtmal, Der Grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1650) bis 1703 siebenmal aufgelegt. Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Unsicherheit, die man bei der Einordnung der Sammlungen in den gattungstheoretischen Kanon beobachten kann. Ich gehe nun davon aus, daß die poetologische ‚Unschärfe‘ der Kompilationen unter anderem dadurch zu erklären wäre, daß sich bei der Auswahl und Redaktion der Stoffe die ästhetische (poetologische) mit der juristischen Normativität überlagert bzw. ergänzt. Es geht mir also um das Wechselverhältnis von Literatur und Recht im Zeichen von Verbrechen und Strafe; einerseits um die funktionale Ergänzung eines mangelhaften Rechtssystems durch Literatur, und andererseits um die Anreizung literarischer Produktion durch die Mängel dieses Rechtssystems

Für diese Hypothese bieten die jüngeren kriminalitätsgeschichtlichen Diskussionen über Normenproduktion, Devianz und soziale Kontrolle einen vielversprechenden Ansatzpunkt. Hier ließ sich in den letzten zehn Jahren eine Öffnung ihres Normen-Konzepts von einer engen juristischen auf eine weitere kulturgeschichtliche Grundlage hin vermerkt. So wurde der Begriff der Kriminalität auf den der Delinquenz, Delinquenz wiederum auf den noch allgemeineren Begriff der sozialen Devianz hin erweitert. Der Ausweitung des Spektrums der untersuchten Delikte entspricht die Untersuchung der Strafpraxis im weiteren Kontext der sozialen Kontrolle. Das Forschungsinteresse verschiebt sich somit offenbar von der rechtshistorischen Diachronie der Norm auf ihre sozial- und kulturgeschichtliche Synchronie. Gefragt wird nach den Abgrenzungs- und Austauschverhältnissen verschiedener Normensysteme sowie nach ihren funktionalen Komplementaritäten und Konflikten. Für die Literaturwissenschaft setzt die Beteiligung an diesem interdisziplinären Arbeitsfeld zunächst die radikale Abkehr vom Repräsentationsmodell voraus. Zu fragen ist hier nicht nach dem Abbildungsverhältnis zwischen Rechtswirklichkeit und literarischer Fiktion, sondern nach den funktionalen Stellenwert literarischer Texte (in ihrer diskursiven Spezifik als literarische) innerhalb des normativen Feldes iher Zeit.

In dieser Hinsicht könnte sich ein Befund der jüngeren Kriminalitätsgeschichte als besonders aufschlußreich erweisen. Die extreme „Kluft zwischen Norm und Praxis […] in der alteuropäischen Welt“ läßt sich nämlich nicht allein negativ durch „strukturelle Defizite an ‚Staatlichkeit‘“ erklären. Vielmehr ergeben sich auch eine Reihe positiver Motive, wenn man die juristische Normativität auf die soziale, die Rechtspflege auf die soziale Kontrolle hin erweitert. Dann gerät das Verfahren eines „selektiven Sanktionsverzichtes“ ins Blickfeld, eine Praxis der „Strafnachlässe“, die als „integraler Bestandteil der zeitgenössischen Strafphilosophie“ zu betrachten ist. Während sozial bereits als deviant stigmatisierte Angeklagte (Berufsverbrecher, Fremde) zumeist die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekamen, konnten sozial integrierte Angeklagte je nach ihrem „sozialen Kapitel“ und je nach Situation das Ausmaß und die Vollzugsweise ihrer Strafe aushandeln. Wenn diesem System ein frühes sozialökonomisches Kalkül zugrunde gelegen haben mag, so bedeutete dies jedenfalls auch umgekehrt, daß damit auch das Rechtswesen selbst zum Gegenstand aller möglichen individuellen Kalküle werden konnte.

Vor diesem Hintergrund läßt sich zeigen, wie der protestantische Jurist Harsdörffer, angeregt durch den katholischen Bischof Camus, in seinen Erzähl-Sammlungen der zeitgenössischen Rechtswirklichkeit ein ‚Überrecht‘ zur Seite stellt, das einerseits in alttestamentarischer Unerbittlichkeit jede Normverletzung mit der ‚passenden‘ Bestrafung quittiert, das aber andererseits durch das zum Teil widersprüchliche Arrangement dieser Schreckbilder zur gesellschaftlichen Diskussion von Norm und Strafe anregt. Nicht die Regression hinter das weltliche Gesetz, sondern die Diskussion der ihm zugrunde liegenden moralischen und sozialen Normen wäre somit als strategisches Ziel der Sammlungen nachzuweisen.