Dissertationsprojekt (abgeschlossen)

Verfassung und Nation in Deutschland und Frankreich

Das Erkenntnisinteresse des geplanten Projektes definiert sich wie folgt: wie läßt sich das Verhältnis zwischen den national geprägten Verfassungskulturen einerseits und der zunehmenden politischen und rechtlichen Integration auf europäischer Ebene andererseits angemessen bestimmen? Von der Tatsache einer fortgeschrittenen rechtlichen Integration Europas ausgehend, läßt sich untersuchen, wie dieser Integrationsprozess in den deutschen und französischen Legitimations- und Selbstverständigungsdiskursen verarbeitet wird. Im Vordergrund steht dabei die jeweilige Rolle der Verfassung und der Nation, die als voneinander unterschiedene Formen der politischen Institutionalisierung von Leitideen und politischen Ordnungsprinzipien begriffen werden sollen.

Entscheidend sind dabei insbesondere folgende Fragen: wie ist es in der Bundesrepublik zu der Entwicklung ein spezifischen Verfassungspatriotismus gekommen, der die Verfassung als rechtliche Grundnorm nicht nur des politischen, sondern auch des gesellschaftlichen Gemeinwesens betrachtet und gleichzeitig in dieser Institution die symbolische Darstellung einer kollektiven politischen Identität findet? Inwiefen lassen sich Unterschiede und Konvergenzen mit dem französischen Republikanismus feststellen? Lässt sich mit Bezug auf Europa die Bundesrepublik als Typus einer „offenen“ Verfassung kennzeichnen (vgl. Art 23 bis 25 GG), wohingegen Frankreich mit seiner zentralen Stellung der nationalen Souveränität eher als ein „geschlossener“ Verfassungsstaat erscheint? Die komparative Perspektive bietet sich aus zwei Gründen an: zum einen hat in Frankreich seit der Gründung der V.Republik eine Aufwertung der geschriebenen Verfassung im politischen Prozess stattgefunden, die sich insbesondere in der neuen Rolle des Conseil Constitutionnel widerspiegelt. In diesem Zusammenhang scheint sich gerade in Frankreich die Frage nach dem Verhältnis von Nation bzw. Republik und Verfassung neu und aktuell zu stellen. Zum anderen sind durch den Vergleich Aufschlüsse darüber möglich, welche Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Prozess der rechtlichen und politischen Integration denjenigen Staaten liefert, deren Selbstbeschriebung sich vormals mehr oder weniger stark an der Leitidee der Souveränität orientierte. Nicht die konkreten rechtlichen Integrationsformen sollen untersucht werden, sondern die Weise, in der die Europäisierung weiter Teile der Rechtsordnung sowie der damit zusammenhängende Souveränitätsverlust in den nationalen politischen und theoretischen Begründungs- und Legitimationsdiskursen verarbeitet wird.

Methodisch muss für die Durchführung des Projektes zunächst eine begriffliche Grundlage geschaffen werden, die es erlaubt, sowohl Verfassung als auch Nation als eine unterschiedliche Form der politischen Institutionalisierung zu begreifen. Da die klassische Institutionentheorie hier nur recht enge Vorgaben liefert, ist es zunächst notwendig, einen anderen, für die Analyse angemesseneren Institutionenbegriff zu entwerfen. Hierzu werden Überlegungen aus der politischen Kulturforschung aufgegriffen und mit der Theorie institutioneller Ordnung zusammengeführt. Auf diese Weise wird der Institutionenbegriff so gefasst, dass der Aspekt der Normierung und Verstetigung in Verbindung gebracht wird mit den diskursiven und kulturellen Praktiken, die die Geltung der institutionalisierten Prinzipien und Normen erst ermöglichen. Der solchermaßen erweiterte Institutionenbegriff kann anschliessend durch die Verfassungstheorie und die Ansätze der Nationalismusforschung konkretisiert werden.

Inhaltlich ist die Arbeit folgendermaßen gegliedert: zunächst erfolgt die eben beschriebene methodisch-theoretische Grundlegung (1). Im Anschluss daran werden in einer – notwendig knapp gehaltenen -  Skizze die historischen Selbstverständigungsdiskurse in Deutschland und Frankreich in bezug auf Verfassung und Nation rekonstruiert Als Material sollen hier vor allem Lexika und Wörterbücher – aber auch repräsentative theoretische Positionen – herangezogen werden, um möglichst aussagekräftig den historischen Bedeutungsgehalt herauszuarbeiten (2). Da sich das Hauptinteresse auf die Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre konzentriert, werden in einem weiteren Schritt die – gut dokumentierten - Gründungsdiskurse der V. Republik und der Bundesrepublik im Lichte der Fragestellung genauer untersucht (3). Der Schwerpunkt liegt schließlich auf der Analyse des europäischen Integrationsprozesses (4). Hier sind sowohl die politischen als auch die rechtlichen Debatten von Interesse, die im Umfeld des EU-Vertrages von Maastricht geführt wurden. Dazu gehören z.B. die Entscheidungen von Conseil Constitutionnel und Bundesverfassungsgericht, die politischen Strömungen des ‚Souverainismus’ in Frankreich, aber auch der neue Nationalismus in Deutschland nach der Wiedervereinigung. Auch die Bedeutung der EMRK kann hier erörtet werden. In einem letzten Kapitel wird schließlich die Frage nach einem offenen oder geschlossenem Verfassungsstaat im Licht der Untersuchung erneut aufgegriffen (5).

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